Das Fallen der Kokarden. Einführung
Spätestens seit Claudio Magris’ Untersuchung über den ›habsburgischen Mythos‹ gelten die österreichische Literatur und ihre Autoren gemeinhin als harmoniesüchtig und rückwärtsgewandt.1 Einen Zeitraum, für den diese Diagnose bestimmt nicht zutrifft, behandelt dieses Buch: Im Herbst und Winter 1918/19 beteiligten sich in Wien prominente Literaten in öffentlich sichtbarer Position an den politischen Aktivitäten, die zum Ende der Habsburgermonarchie sowie zur Ausrufung der Republik (Deutsch-)Österreich führten. Ähnlich wie ihre Münchner Kollegen engagierten sie sich für eine auch soziale Revolution und hatten damit Teil an jener damals neuartigen Konversionsbewegung europäischer Intellektueller zum Kommunismus, die der britische Historiker Eric Hobsbawm für die Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg diagnostiziert hat.2 Zum ersten Mal seit 1848 standen in Wien Schriftsteller wieder selbst im Zentrum des historischen Geschehens.
Generell kennt die neuere deutschsprachige Literatur-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte wohl keinen anderen epochalen Einschnitt, der so weitreichende und tiefgreifende mentale Folgen gehabt hat wie der Untergang der Monarchien am Ende des großen Krieges. Dies wird in der Literatur schon von den Zeitgenossen selbst, aber auch aus der Distanz des Rückblicks kritisch reflektiert. Bereits der sozialdemokratische Vordenker Otto Bauer hat vorgeschlagen, »den Niederschlag dieser schnellen Entwicklung der Stimmungen der bürgerlichen Intelligenz in der österreichischen Literatur zu verfolgen.«3 In diesem Sinn untersucht die vorliegende Studie in einem ersten Teil biographische Quellen wie Briefe, Notizen und Tagebucheinträge aus der Umbruchszeit, in einem zweiten Teil darüber hinaus literarische Texte im engeren Sinn wie Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays bekannter und weniger bekannter Autoren, die zum Teil erheblich später entstanden sind. Behandelt werden u. a. – in alphabetischer Reihenfolge – Texte von Leopold (von) Andrian, Ernst Angel, Hermann Bahr, Franz Blei, Albert Ehrenstein, Albert Paris Gütersloh, Egon Erwin Kisch, Karl Kraus, Anton Kuh, Alma Mahler(-Werfel), Robert Müller, Robert Musil, Robert Neumann, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Hugo Sonnenschein, Friedrich Torberg, Franz Werfel und Berta Zuckerkandl.
In seinem BuchLeben in dieser Zeit. Sieben Fragen zur Gewalt berichtet der 1905 geborene Schriftsteller, Philosoph und Sozialpsychologe Manès Sperber von einer Begebenheit aus seiner Kindheit, die den damals Zwölfjährigen stark beeindruckt und nachhaltig beschäftigt hat.4 Zunächst gibt er ein plastisches Bild von den chaotischen Verhältnissen der letzten Kriegstage in Wien:
Es war im Jahr 1918, am Vormittag des ersten oder zweiten November, auf einem Bahnsteig des Wiener Nordbahnhofs. Seit einer Woche trieb ich mich dort herum, verbrachte meine Zeit mit bald hoffnungsvollem, bald verzweifeltem Warten. Mein Vater hatte seine Heimkehr angekündigt, doch die Unordnung im Zugsverkehr war chaotisch geworden, Fahrpläne galten nicht mehr. Der Vater mochte in der nächsten Minute oder erst nach Tagen eintreffen.5
Der Bahnhof verlor seine vertraute Funktion als Raum des Transitorischen zwischen Fern und Nah sowie als Ort der beständigen Bewegung. Angesichts der Unzuverlässigkeit sämtlicher Fahrpläne wurde er nunmehr zum Wartesaal eines zeitlich unabsehbaren Aufenthalts zahlloser Gestrandeter aus allen – insbesondere den östlichen – Teilen der untergehenden k. u. k. Monarchie, mithin zu einem Ort des passiven Verweilens, der Immobilität und Statik. Unter den zahlreichen, ungewiss und unverrichteter