: Kristina Köhler
: FILM-KONZEPTE 56 - Jaques Demy
: edition text + kritik
: 9783869168715
: 1
: CHF 16.30
:
: Fotografie, Film, Video, TV
: German
: 112
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Farbe, Tanz, Gesang! Mit seinen 'comédies en-chantées' wie 'Les Parapluies de Cherbourg' (1963) und 'Les Demoiselles de Rochefort' (1966) hat Jacques Demy (1931-1990) das Filmmusical ins Frankreich der 1960er Jahre übertragen und dessen Gestaltungsmittel zu einer modernen Filmsprache ausgearbeitet. Auch dort, wo in seinen Filmen nicht explizit gesungen und getanzt wird, begegnen die Körper einander tänzelnd, sind Räume und Bewegungen sorgfältig orchestriert, und Dekor und Kostüme zelebrieren die Sinnlichkeit von Farbe und Materialität. Auf diese Weise eröffnen Demys Filme Zwischenwelten, die sich stets in flirrender Nähe zu Traum und Märchen bewegen - selbst dann, wenn alltagsnahe Themen wie Streiks, soziale Konflikte oder die Schwangerschaft eines Teenagers verhandelt werden. Anders als für viele seiner Zeitgenossen im Umfeld der Nouvelle Vague setzt Demy dabei weniger auf den ästhetischen Bruch als auf subtile Verschiebungen, die Bekanntes in einen Schwebezustand versetzen. Mit einer Mischung aus Hommage, Pathos und Ironie zitiert er Märchen, Geschichten oder visuelle Stereotype der Film-, Kunst- und Literaturgeschichte und ver- oder überdreht sie zugleich. In diesem doppelten Spiel, so soll der Band zeigen, liegt nicht nur die ästhetische, sondern auch eine (bisher kaum gewürdigte) politische Dimension von Demys Kino.

Kristina Köhler ist Juniorprofessorin für Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Davor war sie Assistentin und Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich, wo sie mit der Arbeit 'Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz' (2017) promoviert wurde. Sie ist Mitherausgeberin der Film-Konzepte und der Zeitschrift Montage AV. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Filmgeschichte bzw. Theorie- und Wissensgeschichte des Films, Tanz- und Körperkulturen der Moderne, Medienarchä ologie und Fragen des Medienwandels.

Simon Frisch

Jacques Demys Poetik der Verschiebung und der Schwerelosigkeit


Eine Lektüre der Anfänge vonLOLA undLA BAIE DES ANGES*

»Es ist schwer zu beschreiben, wie Demy es macht,

seine Filme der Schwerkraft zu entheben.«

(Frieda Grafe, 1965)1

Betrachtet man Anfänge von Filmen genau, so lassen sich daraus meist tiefe poetologische Einsichten gewinnen. Hier soll in diesem Sinne in einemclose reading der ersten 20 Minuten der beiden FilmeLOLA (LOLA,DAS MÄDCHEN AUS DEM HAFEN, 1961) undLA BAIE DES ANGES (DIE BLONDE SÜNDERIN, 1963) deren Arbeitsweise beobachtet werden, um daraus Erkenntnisse zur Poetik und filmischen Poesie von Jacques Demy zu gewinnen und diese in den Kontext der Nouvelle Vague und des französischen Films jener Zeit zu rücken.

LOLA undLA BAIE DES ANGES sind die beiden ersten abendfüllenden Spielfilme von Jacques Demy.LOLA entsteht im Sommer 1960 (Drehzeit: 7. Juni bis 17. Juli 1960, Erstaufführung in Frankreich: 3. März 1961),2LA BAIE DES ANGES entsteht 1962 (Drehzeit: 17. September bis 28. Oktober 1962, Erstaufführung in Frankreich: 1. März 1963).3

1.LOLA – vom Anfang her


Möwengeräusche, auf dunkler Leinwand weiße Schrift in Großbuchstaben, ohne Komma, aber mit Punkt am Ende:

»PLEURE QUI PEUT

RIT QUI VEUT.«4

Unten rechts im Eck ein chinesisches Schriftzeichen und kleiner darunter: »PROVERBE CHINOISE«.

Die Schrift verschwindet, dann öffnet sich aus der Mitte eine Irisblende und der Film beginnt mit einer kontinuierlichen, flüssigen Bewegung, die lange anhalten wird: Wir sehen, schwarz-weiß, leicht von oben auf eine leere Küstenstraße einer nordfranzösischen Kleinstadt in Panoramaaufnahme. In der linken Bildhälfte das graue Meer, eine ausgeschaltete Ampel blinkt vorn im Bild, der Himmel ist bedeckt. Mit der Aufziehbewegung der Irisblende senkt sich die Kamera leicht ab. Sie hält einen großen weißen Cadillac mit offenem Verdeck im Kader, der von hinten über die einsame Uferstraße heranfährt, und sinkt mit dem größer werdenden Wagen schließlich auf Augenhöhe; in schlanken, weißen Lettern erscheint über das ganze Bild eingeblendet der Titel: »LOLA«, dazu erklingt Musik von Michel Legrand (Harfe und Geige), dann rechts unten, kleiner und kursiv: »à Max Ophüls …« (mit drei Punkten). Der Wagen biegt – immer noch dieselbe Einstellung – vor der Kamera ein, sodass er in ganzer Breite im Profil zu sehen ist, am Steuer ein Mann mit weißem Cowboyhut. Während die Schrift verschwindet, öffnet sich die Tür des Wagens, die Musik verklingt und die Schreie der Möwen sind wieder zu hören. Zügig, aber ohne Eile, steigt der Mann mit dem Cowboyhut aus dem Auto – wir sehen seinen weißen Anzug und seine weißen Slipper und hören das satte Geräusch der Autotür. Er läuft rasch ein paar Schritte zur Straßenkante, von wo er hinaus aufs Meer schaut. Die Bewegung verlagert sich in rasch wechselnde Überblendungen: das Gesicht des Mannes, nah, leichte Untersicht (nicht alt, Typgemachter Mann, mit Sonnenbrille, Zigarre im Mund), dann eine Überblendung auf das Meer (ein leeres, graues Bild aus Strand, Meer und Himmel), von dort wieder eine Überblendung nah aufs Gesicht und gleich zurück aufs Auto, in das er, während das Gesicht noch ausgeblendet wird, schon wieder einsteigt. Er wirft sich in den Sitz – erneut das satte Geräusch der Autotür – und in zügig wechselnden Überblendungen erscheinen die Credits im Bild: »Anouk Aimée«, »Marc Michel«, »Jacques Harden«, »Alan Scott« usw., dazu hebt de