: Willy Brandt
: Nach dem Sieg Die Diskussion über Kriegs- und Friedensziele
: Campus Verlag
: 9783593454337
: Willy Brandt ? Studien und Dokumente
: 1
: CHF 28.20
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie stellt sich die Zukunft Europas nach dem Zweiten Weltkrieg dar? Keine Frage beschäftigte Willy Brandt während seiner Exiljahre in Schweden mehr als diese. In seinem Buch »Nach dem Sieg«, das er in norwegischer Sprache verfasste und im Juni 1944 erstmals in Schweden unter dem Titel »Efter Segern« veröffentlichte, diskutiert er die Pläne der Alliierten zum Wiederaufbau Europas und zur Beseitigung der Kriegsschäden, die Potenziale einer fortgesetzten Zusammenarbeit der Anti-Hitler-Koalition, aber auch Fragen nach der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern, nach Reparationsleistungen, zukünftigen Grenzziehungen, dem Umgang mit Flüchtlingen und Vertriebenen sowie dem Wiederaufbau des Bildungs- und Erziehungswesens. Daneben richtet er seinen Blick auch über Europa hinaus: Wie kann die internationale Zusammenarbeit neu gedacht und institutionalisiert werden - auf politischem, aber auch auf kulturellem Gebiet? Wie können Not und Hunger weltweit bekämpft, wie die Konsequenzen kolonialer Herrschaft und Ausbeutung beseitigt werden?•errste ungekürzte Übersetzung ins Deutsche einer wichtigen frühen Publikation Willy Brandts•Willy Brandts Visionen für die Zeit nach 1945

Willy Brandt (1913-1992) war ein sozialdemokratischer Politiker und Staatsmann. Während seiner Exilzeit in Norwegen und Schweden war er als Journalist tätig und verfasste zahlreiche Schriften (darunter »Nach dem Sieg«, 1944). Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er Regierender Bürgermeister von Berlin, SPD-Vorsitzender, Bundesaußenminister und von 1969 bis 1974 Bundeskanzler. 1971 wurde ihm für die Neue Ostpolitik der Friedensnobelpreis verliehen. 1976 zum Präsidenten der Sozialistischen Internationale gewählt, engagierte sich Willy Brandt bis zu seinem Tod weltweit für Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit.

Der Hintergrund des Friedens


1.Der Krieg gegen den Hitlerismus


Auch wenn man von den seltsamen Erklärungen gänzlich absieht, die von nazistischer Seite lanciert werden, wird die Frage nach den Ursachen des Zweiten Weltkriegs höchst unterschiedlich beantwortet. Einige betrachten den Krieg als den gewaltsamsten Ausdruck einer tiefgreifenden Krise unserer gesamten Zivilisation. Sie sehen ihn als Teil eines weltumspannenden revolutionären Prozesses. Andere legen das Hauptgewicht darauf, dass die imperialistische Auseinandersetzung im vorigen Weltkrieg nicht zu einer wirklichen Entscheidung geführt hat und die imperialistischen Gegensätze daher mit Naturnotwendigkeit in einen neuen Konflikt münden mussten. Viele haben sich mit der simplen Antwort begnügt, dass dies alles ein paar Diktatoren und der Unterstützung durch ihre Völker zuzuschreiben sei.

Eine kleine Zahl nur halbwegs intelligenter Menschen hegt derweil die Illusion, dass die Rückkehr zu einer Welt möglich sei, wie sie existierte, bevor Hitler seinen Panzern, Flugzeugen und menschlichen Maschinen das Startsignal gab. Diese Illusion wird in Äußerungen der Untergrund-Arbeiterbewegung in Frankreich ebenso bestimmt zurückgewiesen wie in Stellungnahmen des britischen Industrieverbandes. Was auch immer mit diesem Krieg beabsichtigt sein mag, so kann es gewiss nicht darum gehen, zu Verhältnissen wie in der Zwischenkriegszeit zurückzukehren. Über die Art, den Umfang und die Tiefe der erforderlichen Veränderungen herrscht derweil keinesfalls Einigkeit. Die radikale Kritik an den heutigen »Traditionalisten« richtet sich nicht etwa dagegen, dass diese zu den Verhältnissen von 1919 oder 1938 zurückkehren wollen, sondern vielmehr dagegen, dass sie die Welt reinwaschen wollen, ohne sie nass zu machen.

Der militärische Kampf vereint die beiden Hauptrichtungen in der Diskussion über die Friedensziele sowie die vielen Differenzen zwischen ihnen. Unabhängig von den Motiven, die den Kriegserklärungen Chamberlains43 und Daladiers44 im September 1939 zugrunde lagen, hatten alle demokratischen und fortschrittlichen Kräfte der Welt Anlass zu aufrichtiger Freude darüber, dass der Kampf endlich aufgenommen wurde. Denn der Hitlerismus war nicht nur eine tödliche Bedrohung für die Macht verschiedener Staaten und die Sonderinteressen privilegierter Gruppen, sondern auch für das nationale Leben der Völker, die Freiheit und die kulturelle Entwicklung, zunächst in Europa und später überall auf der Welt. Wie es sich auch mit den imperialistischen Gegensätzen verhielt – der Krieg war auf jeden Fall auch ein Krieg der Völker gegen die schwärzeste Barbarei.

Fünfunddreißig Staaten waren zu Beginn des Jahres 1944 an der antinazistischen Weltkoalition beteiligt. Ihr Kriegsziel ist hinreichend klar. Sie kämpfen, um das nazistische Deutschland und dessen Verbündete zu besiegen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung jener Länder, die zu den Vereinten Nationen45 gehören – und viele mit ihnen –, sind daran interessiert, den Krieg so schnell wie möglich zu gewinnen.

Aber wozu soll der Sieg dienen? Die Parole vom Krieg gegen den Hitlerismus, gegen das nazistische Deutschland und seine Verbündeten ist eine negative. Sie scheint nicht in die Zukunft zu weisen. Andererseits birgt die Formel, wonach der Zweite Weltkrieg einen Kampf auf Leben und Tod zwischen Diktatur und Demokratie darstelle, offenbar nur einen Teil der Wahrheit. Zwischen Roosevelt46 und den amerikanischen Bankkreisen sowie zwischen der Labour Party und den englischen Grubenbesitzern herrschen ziemlich unterschiedliche Auffassungen vom Gehalt jener Demokratie, für die man kämpft. Von der Sowjetunion kann man sagen, dass sie sich in einer Entwicklung zu einer Demokratie neuen Typs zu befinden scheint. Eine politische Demokratie in dem Sinne, den man dem Wort bisher gegeben hat, ist es jedoch nicht. In mehreren der besetzten Länder, deren Völker für ihre Freiheit kämpfen, gab es keine Demokratie zu verteidigen. In Indien haben die Kongressführer47 ihre eigene Auffassung von der Volksherrschaft. Und in China gibt es bisher nur wohlfeile Versprechungen von einer Demokratie, die kommen soll.

Dennoch ist der Kampf für die Demokratie heute auf eine ganz andere Weise lebendig als während des vorigen Weltkriegs. Der demokratische Erziehungsprozess hatte trotz allem in einer Reihe von Ländern Fortschritte gemacht. Die Bedrohung der grundlegenden Menschenrechte, die die eigentliche Lebensluft der Demokratie ausmachen, ist in diesem Krieg nun aber unübersehbar und mit Händen zu greifen. Für große Teile der Gesellschaften vieler Länder hat der Begriff Demokratie dabei auch einen neuen Klang erhalten. Sie kämpfen nicht für die Krisendemokratie, aus der der Nazismus und die Kriegsgefahr entsprangen. Stattdessen halten sie sich an das Versprechen, dass die Grundsätze der Volksherrschaft von der politischen auch auf die soziale und wirtschaftliche Sphäre übertragen werden müssen. Mag sein, dass es in allen Ländern Individuen und Gruppen gibt, die in erster Linie an ihre eigenen Privilegien denken. Für die Soldaten im Felde, zur See und in der Luft, für diejenigen, die in den Rüstungsbetrieben und Forschungszentren arbeiten, bedeutet der Kampf für Freiheit und Demokratie aber wesentlich mehr. Das wird schon die erste Zeit nach dem Krieg zeigen. Der Funke der demokratischen Hoffnung wird zur Flamme der demokratischen Volkserhebung werden.

Churchill,48 Stalin,49 Roosevelt und andere Führer der Vereinten Nationen haben immer wieder betont, dass ihr wichtigstes Ziel darin besteht, den Hitlerismus in Europa auszurotten. Diese Zielsetzung ist jedoch nicht über jede Diskussion erhaben. Der Völkerhass wird, als ein Ergebnis des Vorgehens des Nazismus, immer stärker und stärker, und dieser Völkerhass kann auf seine Weise dazu führen, dass die Debatte über die Friedensziele entgleist. Es lässt sich nicht übersehen, dass es vielerorts Kräfte gibt, die sehr zielbewusst daran arbeiten, von der, wie es heißt, rein negativen Zielsetzung wegzukommen. Sie sind aus vielerlei Gründen nicht daran interessiert, dass der Krieg gegen den Hitlerismus als ein antinazistischer Krieg endet. Soll der Kampf bis zu seiner logischen Konsequenz weitergeführt werden, sind »traditionelle« Lösungen unmöglich. Wer die Zeiger der Uhr zurückdrehen will, muss früher oder später notwendigerweise aus dem antinazistischen Kampf desertieren.

Der Krieg gegen den Hitlerismus stellt nämlich nicht nur die Frage in den Raum, was mit den jetzigen faschistischen Staaten geschehen muss, um neuerliche Angriffe von ihrer Seite zu verhindern. Er wirft auch die Frage nach den Gehilfen des Nazismus und Faschismus in verschiedenen Ländern, in allen Ländern, auf. Noch werden die Kräfte durch den Kampf gegen den gemeinsamen Feind zusammengehalten. Man kann jedoch keine Bilanz der Ströme von Blut und der Meere von Tränen dieser Jahre ziehen, ohne eine Antwort auf folgende Fragen zu verlangen: Wer half Hitler dabei, jene Kriegsmaschinerie aufzubauen, die viereinhalb Jahre lang in den europäischen Ländern in der Luft und auf den Meeren gewütet hat? Wer hatte die Macht dazu, unterließ es aber, den kriegerischen Nazismus zu zerschlagen, als es noch ein Kinderspiel gewesen wäre – im Vergleich zu dem, was dieser Krieg an Menschenleben und an materiellen und kulturellen Werten inzwischen gekostet hat? Wer verneigte sich nahezu zwanzig Jahre lang vor Mussolini50 und ließ ihn Abessinien51 überfallen? Wer lieferte Japan Rohstoffe für das Kriegsmaterial, das gegen China verwendet werden sollte, und später gegen andere, die den Anspruch der Faschisten Nippons auf eine uneingeschränkte Herrschaft in Asien...