: Ulrich K. Preuß, Claus Offe, Timothy Snyder
: Transit 40. Europäische Revue Zeitalter der Ungewissheit
: Verlag Neue Kritik
: 9783801505462
: 1
: CHF 9.90
:
: Politikwissenschaft
: German
: 180
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums ließ das herrschende Narrativ des 20. Jahrhunderts, insbesondere das Bild des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit, über Nacht überholt erscheinen. 1991 traf sich in Wien am Institut für die Wissenschaften vom Menschen eine Gruppe von Historikern aus dem Westen und aus Osteuropa, um über eine europäische Geschichtsschreibung nach dem Ende der Teilung Europas nachzudenken. Daraus erwuchs das Forschungsprojekt Rethinking Post-War Europe, das von 1993 - 1998 unter der Leitung des Historikers Tony Judt am IWM verfolgt wurde. Es markiert einen Paradigmenwechsel in der Historiographie des 20. Jahrhunderts. Tony Judt starb am 6. August 2010. Dieses Heft ist seinem Gedächtnis gewidmet.

Timothy Snyder

TONY JUDT: EINE INTELLEKTUELLE REISE1

 

Als ich Tony Judt vor 20 Jahren zum ersten Mal begegnete, war er gerade auf dem Weg zum Zug. Anstatt wegzufahren, aß er jedoch mit zwei Studenten der Brown University in Providence zu Mittag. Behutsam gab er den beiden jungen Männern, die zwischen Journalismus und Geschichte schwankten, Karrieretipps. Ich möchte natürlich nicht behaupten, dass jeder, der jemals mit Tony gegessen hat, entweder Historiker wurde, so wie ich, oder den Pulitzer-Preis gewann, so wie Gareth Cook. Vielmehr geht es mir um den außergewöhnlich großzügigen Umgang, den Tony mit seiner Zeit pflegte – insbesondere wenn es um junge Menschen ging. Auf eine kurze Bitte um Rat erhielt man mitunter eine mehrseitige, sorgfältig ausgearbeitete Antwort. Tony schrieb Dutzende von Empfehlungsschreiben für Leute, die formal nicht einmal seine Studenten waren, und organisierte Konferenzen, auf denen jüngere mit etablierteren Wissenschaftlern zusammentrafen. In seinem Remarque Institute an der New York University war Leistung ein deutlich wichtigeres Aufnahmekriterium als Ruhm.

Man kann in Tony Judt im Verlaufe seines Lebens eigentlich zwei Historiker sehen: zunächst einen aus der Arbeiterklasse stammenden Marxisten mit englisch-jüdischem Hintergrund, der seine Ausbildung in Cambridge und an der École Normale in Paris absolvierte und vier hervorragende Bücher über die französische Linke verfasst hat; später dann einen großen New Yorker Gelehrten, der neben einer fulminanten Geschichte Nachkriegseuropas auch bemerkenswert klare Studien über einige führende europäische Intellektuelle geschrieben hat, darunter Albert Camus und Leszek Kołakowski. Das Bindeglied zwischen diesen beiden Stadien warPast Imperfect, Tonys eloquente Kritik der Pariser Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg, die 1992 erschien. Auf den ersten Blick war dieses Buch eine genaue Untersuchung des Kommunismus von Jean-Paul Sartre und des politischen Narzissmus der Rive Gauche-Intellektuellen, die den Stalinismus feierten, aber die Augen vor seinen Folgen in Osteuropa verschlossen. Auf einer tieferen Ebene war das Buch die Abkehr eines französischen Marxisten von seiner eigenen Tradition.

Tony hatte sein erstes Buch,La reconstruction du parti socialiste, 1921-1926, auf Französisch verfasst. Ein französischer Kritiker stellte treffend fest, dassPast Imperfect sich lese wie die Auseinandersetzung eines lebenden französischen Intellektuellen mit seinen toten Kollegen. Im Grunde war dieses Buch Tonys erster Versuch einer Geschichtsphilosophie, die den Untergang des Marxismus und der anderen großen politischen und intellektuellen Systeme des 20. Jahrhunderts überleben sollte. Als er sich von den französischen Marxisten distanzierte, widerstand er der Versuchung, den Marxismus durch eine andere Quelle intellektueller Autorität zu ersetzen. Während andere Intellektuelle seiner Generation den Marxismus gegen etwas anderes austauschten, das wie sein Gegenteil erschien – etwa den Markt – verwarf Tony den Gedanken,