: Ines Geipel
: Seelenriss Depression und Leistungsdruck
: Klett-Cotta
: 9783608104752
: 1
: CHF 13.50
:
: Gesellschaft
: German
: 238
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie ein Blitz trifft uns die Nachricht,wenn einer der Erfolgreichen und Berühmten das Leben plötzlich nicht mehr erträgt. Der Suizid als letzte Konsequenz quälender Depressionen beleuchtet für einen grellen Augenblick die Widersprüche zwischen glänzender Oberfl äche und innerer Verzweifl ung. Die ihr gut bekannte Welt des Leistungssports ist für Ines Geipel jedoch nur Bild und Inbegriff unserer enorm beschleunigten Erfolgsgesellschaft. Denn der Zwang zu unbegrenzter Leistungssteigerung, Flexibiliät und Selbstvermarktung macht nicht nur Sportler krank und depressiv. Letzten Endes - so bezeugen es ihre Gespräche mit führenden Psychologen und Seelenexperten - sind wir alle dem Wirbelsturm eines neuen Welttempos ausgesetzt und so in Gefahr, mit olympischer Rasanz unser inneres Gleichgewicht zu verlieren.

Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch »Verlorene Spiele« (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.
'schen Hemmungs-Modells hatte darüber hinaus auch Konsequenzen für die ostdeutsche Körperpolitik, bei der sich Leib und Seele unter dem Druck der Verhältnisse nicht selten rosskurartig abhanden kamen. Beispielsweise wurde die ominöse Schlafkammer im Laufe der Zeit durch eine harte Medikalisierung der ostdeutschen Bevölkerung - in Psychiatrien, Heimen, Gefängnissen oder im Sport - ersetzt. Sinnfälligerweise ordnete man noch in den Achtzigerjahren im Elitesport der DDR Schlafkuren mit Faustan, dem stärksten offiziell zugängigen Beruhigungsmittel des Landes, an. Im Hinblick auf sein Arbeitsleben hatte Dirk Enke offenbar noch Glück. 18 Jahre lang arbeitete er in der Stadtrodaer Klinik in der Abteilung Psychotherapie, die einen gewissen Sonderstatus innehatte. Als sich Mitte der Achtzigerjahre in der psychiatrischen Praxis leichte Umstrukturierungen und teilweise Öffnungen vollzogen, wusste man in dieser Abteilung den Wind zu nutzen. Zusammen mit einigen jungen Kollegen versuchte er, entgegen dem rigiden Kollektivansatz in den Therapien und den weiterhin hoch dosierten Medikamentenvergaben, einen deutlich anderen Umgang mit den Patienten. Die Gruppe besorgte sich aktuelle Literatur aus dem Westen und diskutierte Freud, der Mitte der Achtzigerjahre in einer dreibändigen Ausgabe in der DDR endlich zugänglich gemacht wurde. Eher im Stillen und in vorsichtiger Absprache bemühte man sich um neue Ansätze. Doch wer als Psychologe auf Einzelgespräche mit dem Patienten setzte, machte sich schon allein damit zwangsläu?g verdächtig. Veränderte Konzepte? Ja nun, aber bitte nur in winzigen Schritten, nur minimal dosiert. Mit dem ganzen Freud, klang bei all dem durch, könne man in der DDR keinen Staat machen. Eine Quadratur des Kreises. Ein Tappen im Nebel. Eine Zeit zwischen vager Hoff nung und Frustration. Da vibrierte nichts, da war auch kein Aufbruch, sondern vor allem der Kampf mit den Chimären einer diskreditierten Utopie. Der eigenartige DDR -Sound jener Jahre aus Scheinliberalisierung, Angst, Härte und festgehaltener Zeit prägte vor allem die ostdeutschen Kriegskinder und Mauerkinder. Doch was geschah mit den um 1980 Geborenen, die man keine zwanzig Jahre später »Wendekinder« oder auch »Zonenkinder« nennen würde ? Was sah, was fühlte ein Kind, das Mitte der Achtzigerjahre an der Polytechnischen Oberschule »Wilhelm Pieck«, einer Plattenbau-Schule in Neulobeda-Ost, Schüler einer zweiten oder dritten Klasse war ? War es irgendwo besonders aufgehoben ? Empfand es irgendwelchen Druck ? Bekam es etwas von der Psychodramatik jener speziellen DDR -Agonie mit ? KÖRPER UND WERKZEUGE. Dem spielbegeisterten Jungen gehörten die wilden Nachmittage mit dem Vater im Cospedaer Oberfeld immer seltener. Wie alle Kinder hatte er Ferienspiele, Schulgarten, Patenbrigade, Pioniernachmittage und schleppte sein liebstes Plüschtier mit ins Klassenzimmer, für die Freiheit in Nicaragua. Im Fach Heimatkunde stand die Lehrerin vorn an der Tafel mit einem Stapel Postkarten in der Hand und zeigte eine angegilbte, aber äußerlich heile Welt: Schwerin mit dem Disney-Schloss, Magdeburg mit Mähdreschern in der Börde, Dresden mit Zwinger, Erfurt im IGA -Blumenmeer. Nur von Berlin hatte sie nichts. Wie wohl fast jeder Junge spielte Robert Enke nachmittags mit den Freunden Fußball. Er traf sich mit seinen Kumpels meist auf dem großen Wäscheplatz zwischen zweiter und dritter Kaufhalle in Neulobeda-Ost und kickte bis in den Abend hinein. Wenn nicht, trainierte er im Verein, der ohnedies mehr und mehr zum Mittelpunkt seines Lebens wurde. Die Mannschaft des FC Carl Zeiss Jena - aus heutiger Sicht lag der sportliche Höhepunkt Mitte der Achtzigerjahre hinter ihr - war zu dem Zeitpunkt ein absoluter Publikumsmagnet. Für sie galt der Nimbus, den westlichsten Stil im Osten zu spielen und zugleich einer der großen Angstgegner des Ost-Berliner Schiebermeisters BFC Dynamo, besonderer Augapfel von Fußballnarr und Stasi-Chef Erich Mielke, zu sein. Allein schon für diesen heiklen Kontrapart wurden die Pro?s aus Thüringen von Hunderttausenden Ost-Fans geliebt. Die Mannschaft aus dem Jenaer »Paradies« war dabei einer der wenigen DDR -Clubs, die das Format hatte, im europäischen Fußball ganz vorn mit dabei zu sein. Im Europapokal gelang es den Blau-Gelb-Weißen, Star-Mannschaften wie AS Rom, FC Valencia oder Altmeister Ben?ca Lissabon ab und an fürchterlich alt aussehen zu lassen. So geschehen in der Saison 1980/1981, als der FC Carl Zeiss Jena so ziemlich alles in Grund und Boden spielte, was an West-Teams Rang und Namen hatte. Erst im windigen Düsseldorfer Endspiel schaffte es der Kompaktaufmarsch von Dinamo Ti?is, die Jenaer zu stoppen. Wieder zu Hause, wurden die Verlierer wie Helden begrüßt. Es war die Niederlage durch die Georgier, die die Jenaer Mannschaft zum Kult sondergleichen machte. Denn das gibt es ja, dass der Ball eine Mannschaft bevorzugt, sie sozusagen auserwählt, vielleicht, um dar an zu erinnern, dass es hier um ein Spiel geht, das Charakter, Grandezza, Magie, Wildheit verlangt, dass es mit ihm um etwas vollkommen Unverwechselbares geht. Ein paar Jahre lang schaff te es die Jenaer Crew, diese Höhe zu spielen. Durch ihre Spielweise formte sich der Mythos von einer off ensiven Kraft-Mannschaft, die beinah jedes Spiel zur Schlacht machte, eben weil sie artistisch, wendig, elegant und unberechenbar daherkam. Fußball im Osten war immer ein bisschen wie sich Ausgang nehmen vom Alltag in der Diktatur. An den Jenaer Spieltagen strömten die Massen wie ein träger Fluss unablässig ins Stadion. Der örtliche Nahverkehr wurde durch eine Armada Sonderbusse minutiös auf die wenigen Stunden eingestellt. Stadion und Gelände waren liebevoll auf Vordermann gebracht worden. Die Fahnen am Eingang erzählten etwas vom leichten Rückenwind für die heimische Mannschaft. Ausnahmsweise klappte sogar mal die Versorgung. Es gab Bier und Würstchen, für die Kinder Eis. Die Leute standen an den Buden, witzelten über die Aufstellung des Gegners, fachsimpelten über das Fehlurteil des Schiedsrichters aus dem letzten Spiel oder schlenderten nur vorbei und grüßten knapp. Man kannte sich als in dem Sinne städtische Großfamilie. Der Stadionsprecher schwor die Fans im hohen Ton auf den Kampf ein. Die Sonne hing versonnen über den Kernbergen. Es herrschte jene idyllisch gespannte Atmosphäre wie vor Beginn eines Festes. Das ging so lange, bis es schlagartig still im Stadion wurde. Jetzt ging es um den ewig langen Moment vor dem Anp? ff. Ab da wollte man es einfach nur gut miteinander haben. Das Spiel lief. Stunden als Ritual und Ventil zugleich. Denn die frühen Samstagabende, wenn sich die Fans nach dem Ende der Oberliga vor den Fernsehern sortierten, waren immer auch ein Stück gefühlte DDR . In dieser Zeit vor dem »Sandmännchen« konnte jeder seine Wut über die lancierten Dauersiege der beiden Polizeisportvereine - BFC Dynamo und Dynamo Dresden - ganz privat in den Fernseher hineinbrüllen oder den Mannschaften aus Magdeburg oder Jena inständig seine Liebe erklären. In jedem Fall schien mal wieder geklärt: Wer hier das Spiel gewann oder verlor, war letzten Endes niemand anderes als die eigene Seele. Auch deshalb ging es völlig in Ordnung, wenn die Jungs aus dem Jenaer Paradies ab Mitte der Achtzigerjahre mehr und mehr an Boden verloren. Es passte. Das Land tat es ja auch. Man könnte das Jenaer Mannschafts-Herz auch als erweitertes Startkapital von Robert Enke ins Feld führen. Ein Kraftfeld, das ihn wie selbstverständlich in einen - nur in diesen Jahren so möglichen - Spielcharakter einnordete, einen Stil aus Spielwut, Widerborstigkeit, robuster Vorteilsnahme und sympathischem Understatement. Das war zumindest, was man auf dem Spielfeld zu sehen bekam und wofür die Mannschaft auf Händen getragen wurde. Wenn die Jugend-Mannschaf