: Helene Maimann
: Der leuchtende Stern Wir Kinder der Überlebenden
: Paul Zsolnay Verlag
: 9783552073777
: 1
: CHF 19.10
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ihre Eltern wollten nach dem Zweiten Weltkrieg eine andere Welt - Helene Maimann über die Kinder der Überlebenden
Ein extremes Leben hatten alle ihre Eltern bereits hinter sich: als Kämpfer bei den Internationalen Brigaden in Spanien, in der Résistance und in den Armeen der Alliierten, als Überlebende in einem KZ oder in Sibirien. Andere standen auf Schindlers Liste. Sie waren jüdisch oder kommunistisch oder beides. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Welt eine andere, das stand für sie fest, als sie in Wien neu anfingen. Ihre Kinder gingen vom Rand der Gesellschaft in ihre Mitte. Viele zählen heute zur kulturellen und politischen Avantgarde. Die Historikerin Helene Maimann ist eine von ihnen. Sie erzählt von ihrer Prägung, aber auch von den Konfrontationen mit der Welt der Eltern, sie erzählt von Hoffnungen und vom Scheitern und von den Freunden Elizabeth T. Spira, Robert Schindel, André Glucksmann u.a.

Helene Maimann wurde in Wien geboren und ist Historikerin, Autorin und Filmemacherin. Sie kuratierte mehrere große Ausstellungen zur österreichischen Zeitgeschichte und wurde u. a. mit dem Karl-Renner- Publizistikpreis (2011), dem Käthe-Leichter-Staatspreis für Frauenforschung (2017) und dem Axel-Corti-Preis (2019) ausgezeichnet. Bei Zsolnay erschien ihr Buch Der leuchtende Stern. Wir Kinder der Überlebenden (2023).

2

Amarcord


Tatsächlich werde ich jedes Mal, wenn ich in Rimini bin,von Gespenstern angefallen, die eigentlich schon archiviert, eingeordnet sind.

Federico Fellini, Mein Rimini

Der Kindergarten am Lainzer Platz in Wien-Hietzing sieht heute noch aus wie damals, nur die graue Fassade ist inzwischen abgeblättert. Die Tante hat für das Faschingsfest einen Kopfschmuck aus Kreppapier gebastelt. Noch spüre ich ihre sanfte Hand, die sich über meine Augen legt, wenn die Kinder sich auf den kleinen geflochtenen Betten niederlegen, die am Nachmittag aufgestellt werden. Sofort schlafe ich ein. Ein Zaubertrick.

Ich kehre nur zögernd in das Lainz der frühen Kindheit zurück. Es hat sich wenig geändert. Der Dorfplatz, die Straßenbahn, die Gemeindebauten, die Villen, die Kastanienalleen und der Rote Berg, die Kirchenglocken, die Verbindungsbahn, die den Westen Wiens mit dem Süden und Osten verknüpft, das Läuten der Schranken, bevor sie sich ächzend senken, das Rattern der Güterzüge. Federico Fellini sagt, die Rückkehr in die frühen Jahre sei wie ein selbstgefälliges Wiederkäuen von Erinnerung, ein theatralisches Unternehmen von trüber Faszination. Eine Dimension von Erinnerung, nicht die Erinnerung selbst. Was habe ich erlebt, gehört, überschrieben, geträumt, gelesen in den papierenen Überbleibseln? Zwanzig Jahre lagen sie im Souterrain, ohne dass ich einen Blick hinein gemacht habe. Jetzt kommt Lainz wie ein Ufo auf mich zu und landet mit sanftem Fauchen im Garten. Heraus steigen meine jungen Eltern, die Familie, ihre Freunde. Ich bin ihnen lange aus dem Weg gegangen. Dabei wohne ich mein halbes Leben nur einen Steinwurf entfernt von der Lockerwiesensiedlung, der letzten Großtat des Roten Wien.

Die Lockerwiese ist eine richtige Kleinstadt, mit Parks, Stiegen, Plätzen, Bäumen, Wiesen, Geschäften. Dazwischen schmale Fußwege, die sich durch die Reihenhäuser winden, jedes mit Küche, zwei Zimmern unten, drei oben, Badezimmer. Das Kind sitzt auf einer Decke im winzigen Hof neben seiner Badewanne, ein mattsilbriges Blechschaff mit Henkeln. Die Mutter plaudert mit dem Ehepaar Swoboda, dazwischen wachsen große Birnen am Spalier. Gehen die Eltern ins Kino, ist die Oma Swoboda da oder Frau Parisek, ein altes Weiblein im dunklen Kleid, in deren Küche es nach Zichorienkaffee und Äpfeln riecht.

Einmal nimmt eine Nachbarin das Kind an der Hand, »komm, ich zeig dir was Schönes«, führt es durch den Torbogen hinaus in die Versorgungsheimstraße. Herunter schaukelt langsam ein Zug von fein angezogenen Leuten. Feierliche, blecherne Musik. Vorne Mädchen, von Kopf bis Fuß weiß gekleidet, mit Kränzen und Schleiern und Blumenkörben. Buben mit weißen langen Hemden und schwarzen Röcken, dahinter ernste Männer in schwarzen Anzügen und Fahnen mit Borten. Zwei Herren mit weißen Kleidern. Sie haben vorne einen Umhang mit einem großen Kreuz und schwenken Kessel, aus denen Rauch dringt. Ein Herr in einem langen, prächtigen Kleid unter einem großen Stoffdach hat ein großes goldenes Gerät in den Händen, das wie eine Sonne aussieht. Um ihn herum Männer, die das Dach mit Stangen tragen. Niemand spricht oder lacht. Viele Leute auf dem Gehsteig, die Männer ziehen den Hut, als das Dach vorbeikommt, die Frauen schlagen ein Kreuz. Das Kind zieht mit einem Ruck seine Hand heraus, dreht sich um und läuft zurück. Es gehört nicht hierher.

Hinter dem Torbogen beginnt das sichere Terrain, im Geviert mit den Gärten, dem Hof und der Rückseite des Kinos. Das Kind hat eineNegerpuppe unterm Arm, das war damals modern, mit roten Lippen und Klapplidern über den starren Augen. Sie ist namenlos, schwer und ungeliebt. Irgendwann wird die Schwarze an der Kinowand deponiert und erfolgreich vergessen. Wenn der Vorführer im Sommer die Lüftungsklappen aufmacht, hören die angrenzenden Häuser den Film mit. An einem Nachmittag sitzt das Kind darunter und hört wunderbare Musik, schläft ein, wacht auf, schläft wieder ein, das Gesicht heiß von der Sonne. Niemand stört es. Jahre später sehe ich »Fantasia« von Walt Disney und erinnere mich, wo ich diese Musik gehört habe, an die warme Kinomauer, die Hitze des Nachmittags. Das Kino hat einem Supermarkt weichen müssen, sonst ist alles wie einst.

Im Wohnzimmer steht die gusseiserne Singer-Nähmaschine mit goldfarbenen Verzierungen auf dem Näharm und einem Tretantrieb. Darauf fertigt die Mutter Korsagen und Badekostüme, mit einer raffinierten inneren Konstruktion für stärkere Damen, und Kleider aus weißem Musselin für das Kind, mit Flügelärmeln und einer großen Masche am Rücken. Das Rattern der Singerin durchzieht das Häuschen wie ein feiner Geruch. Am Nachmittag kommen die Kundinnen zur Anprobe. Neben dem Nähtisch steht ein hoher Schemel, darauf ein Tablett mit der Teekanne, dem Krug für heißes Wasser, dem Milchkrüglein mit der AufschriftTake a little Cream, alles aus rahmfarbenem Steingut. Daneben Zuckerdose und Teeschalen. Der Kessel meldet sich. Die Mutter nimmt Kanne und Krug, geht in die Küche und zelebriert ihre Teezeremonie: Den Pot mit kochendem Wasser ausspülen. Zwei Fingerspitzen Tee hineingeben. Aufgießen. Drei Minuten ziehen lassen, umrühren, warten, bis sich die Teeblätter gesenkt haben. Etwas Milch in die Schalen, ein Sieb auflegen, den Tee langsam eingießen. Ein Löffel Zucker. Umrühren, auf den Tee blasen.

Zu Hause ist England, vor der Tür ist Wien. Lainz ist weit weg von Krieg und Zerstörung. Niemand verliert ein Wort darüber. In den Gärten wachsen Obst und Blumen, regelmäßig donnert ein Zug vorbei, mit lautem Pfeifen, wenn er sich den Bahnschranken nähert. Rund um die Kirche kleine Läden, der Pfarrhof, das Restaurant Eder.

Ich bin gut in dieser Welt gelandet, umgeben von Onkeln und Tanten, die mich wie ein Schutzmantel von der Düsternis fernhalten. Die feuchte Enge des Nachkriegs, die eisigen Nächte in den Häusern neben den Schutthalden, die Krüppel, die verhärmten Frauen, die abgerissenen Kinder sind anderswo, nicht hier. Dass ich weder Oma noch Opa habe und die Onkel und Tanten keine Verwandten sind, fällt mir nicht auf. Immer sind Leute um mich herum, junge Leute, mein Vater ist dreiundzwanzig, als ich geboren werde.

In der Kindheit scheint sommers und winters die Sonne, ein Gnadenakt der Erinnerung. Mir fällt dazu die Rodelbahn am Roten Berg ein und der Himmel über dem tiefblauen Millstätter See. Mein fünfter Geburtstag, der dort gefeiert wird. Das Käppchen mit dem Kärntner Wappen, das ich geschenkt bekomme. Der Geruch des frischen Striezels zum Frühstück, die saure Milch mit Erdbeeren und Zucker am Abend, dazu ein Butterbrot. Der holzgefütterte Herd in der Küche, auf dem die Haustochter die Töpfe herumschiebt. Die Wolken von auf und ab schwirrenden blauen Schmetterlingen über den Wiesen, und dass ich damals mein Herz an Berge und Almen und Wälder und Seen verloren habe.

Dann müssen meine Eltern das Paradies verlassen. Etwas ist vorbei und kommt nicht wieder. Der Vater löst mit einem Schraubenzieher vorsichtig das gläserne Schild von der Haustür ab und wickelt es in Zeitungspapier.

»Was steht da drauf?«

»Da steht, dass die Mama hier einen Miedersalon hat. Gehabt hat. Geh hinein und hol dir eine Weste. Wir fahren in die neue Wohnung.«

Meine Eltern und ich, Frühling 1952.

Im Wohnzimmer stapeln sich Bündel und Koffer. Die Mutter schlichtet ihr Werkzeug und Nähzubehör in eine große Schachtel: Maßbänder, eines für Yard und eines für Zentimeter, Zwirne, Nähseiden, Garnrollen, Fischbeine, Fingerhüte, das Nähkissen, Stecknadeln, die große Schneiderschere, die flache fettige rosa Kreide zum Anzeichnen der Änderungen, dünner Schaumgummi, Ösen und Schließen und zwei Rollen Köperband. Darauf legt sie Gaze, Schnittmuster aus Packpapier und zusammengelegte Atlasstoffe in Schwarz, Weiß und Rosa.

»Die Singerin kommt auch mit?«

»Es ist wenig Platz, aber es wird sich schon ausgehen.«

Sie richtet sich auf und stemmt die Hände ins Kreuz. Sie hat einen dicken Bauch, bald kriege ich einen Bruder oder eine Schwester.

»Wirst du weiter für die Damen nähen?«

Sie schüttelt den Kopf.

Nie wären wir von dort weggegangen, sagte sie noch viele Jahre später. Diese Vertreibung kam sie hart...