: Ulrich Tadday
: MUSIK-KONZEPTE 200/201: Olga Neuwirth
: edition text + kritik
: 9783967077568
: 1
: CHF 34.50
:
: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 141
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die österreichische Komponistin Olga Neuwirth (*1968) erlangte Bekanntheit vor allem durch ihre Opern und Musiktheaterwerke, die häufig ebenso aktuelle wie dezidiert politische Themen der Identität, Gewalt und Intoleranz behandeln. Für ihr Schaffen wurde ihr 2022 der Ernst von Siemens Musikpreis verliehen. Olga Neuwirth ist ein kritischer Geist. Gesellschaftskritische Themen begegnen dem Publikum vor allem in Neuwirths multimedialen Musiktheaterwerken, die uns an die Morbidität des Seins erinnern und in sinnlich fluider Form von Kommen und Gehen, Werden und Vergehen erzählen. Auch in anderen Orchester- und Ensemblemusiken, Kammermusik- oder Solowerken, in Filmmusiken und Installationen überrascht Olga Neuwirth die Hörer gleichzeitig immer wieder mit ihrem philosophisch-musikalischen Witz, indem sie Banales mit Sublimem kontrastiert wie einen schrecklich schönen Zauber. Mit Beiträgen von Katharina Bleier, Stefan Drees, Daniel Ender, Susanne Kogler, Irene Lehmann, Roman Synakewicz, Elisabeth van Treeck und Dirk Wieschollek.

Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der 'Musik-Konzepte'.

DANIEL ENDER

»a harmoNy Of space aNd sOunds«1
Olga Neuwirth und Luigi Nono.
Eine dokumentarische Collage als poetologische Spurensuche
2


»non tanto […] carpire […], ma piuttosto capire« /
»nicht so sehr … entreißen …, sondern vielmehr verstehen«3

»Mit der Vernunft allein kann man die Wirklichkeit
nicht beschreiben.«4

Als die damals 29-jährige Olga Neuwirth im Herbst 1997 vorübergehend nach Venedig übersiedelte, führte sie am 1. November, zu Allerheiligen, einer ihrer ersten Wege auf die Friedhofsinsel San Michele, »mit kleiner gelber Rose in der Hand«, um diese auf dem Grab von Luigi Nono (1924–1990) abzulegen.5 In ihren während ihres Aufenthalts in der Serenissima entstandenen tagebuchartigen AufzeichnungenBählamms Fest. Ein venezianisches Arbeitsjournal 1997–1999 ist Nono der bei Weitem am häufigsten vorkommende Name eines Komponisten. Neuwirth hat ihn auch ansonsten wiederholt auf sehr prägnante Weise genannt (der folgende Beitrag stellt sich die und der Aufgabe, einige dieser Aussagen zu sammeln und zu ordnen). Dennoch spielt er in den publizistischen und wissenschaftlichen Diskursen über sie bislang keine entsprechend herausragende Rolle. Beim Symposion anlässlich des 50. Geburtstags der Komponistin im Juni 2018 erwähnte Susanne Kogler am Ende ihres einführenden Vortrags Nono als »weitere[n] Vergleichspunkt […], dem sich nachzugehen lohnte«6. Es ist auffällig, dass die Beziehung Neuwirths zu Nono jedoch in den gedruckten Beiträgen der Tagung nicht weiterverfolgt und erst in der abschließenden Podiumsdiskussion wieder aufgegriffen wurde. Jürg Stenzl hielt in diesem Zusammenhang fest: »Bis heute ist noch nicht geklärt, wie wesentlich der Einfluss des späten Nonos [sic] für Olga [Neuwirth] war. […] Ich nehme auch an, dass auch Luigi Dallapiccola und andere politisch engagierte Komponisten für sie wichtig waren, am wichtigsten fraglos Nono.«7 Stefan Drees stimmte dieser Einschätzung zu und ergänzte den Fokus auf den politischen Aspekt um die künstlerische Dimension: »Nono ist [für Neuwirth] fast eine Art musikalisch-moralische ›Vaterfigur‹, könnte man sagen.«8

»Luigi Nono ist 1924 in Venedig geboren, ist die […] Nachkriegsgeneration nach 1945, die als Komponistengeneration nach dem Krieg versucht hat, die zeitgenössische Musik […] in ein neues Zeitalter zu bringen, in dem alle Parameter der Musik neu bedacht werden. […] Was mich aber immer fasziniert hat, war immer seine politische Haltung, für die er auch sehr angegriffen wurde, und dadurch war er einfach, seit ich 15 Jahre alt war, immer mein großes Vorbild, nicht nur musikalisch und wie er sehr früh Elektronik eingesetzt hat […]. Kurz vor seinem Tod […] gab es einen Sommerkurs in Aix-en-Provence […]. Das war für mich einfach prägend, ihn auch als Mensch kennenzulernen, viel zu diskutieren […].«9<