: Jost Eickmeyer, Christoph Jürgensen, Uwe Schütte
: TEXT + KRITIK 236 - Alban Nikolai Herbst
: edition text + kritik
: 9783967077001
: 1
: CHF 21.80
:
: Sprach- und Literaturwissenschaft
: German
: 93
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Pionier des literarischen Bloggens, formbewusster Lyriker, innovativer Hörspielautor sowie Erfinder des kybernetischen Realismus - Alban Nikolai Herbst. Alban Nikolai Herbst hat sich mit seinem ebenso umfangreichen wie vielgestaltigen Werk seit den frühen 1980er Jahren als geradezu ideal-typischer poète maudit bewiesen, der vom Rand des Literatur betriebs aus erheblich auf die Formsprache der Gegenwartsliteratur gewirkt hat. In der monumentalen Trilogie der 'Anderswelt'-Romane etwa (er)findet Herbst eine nach-postmoderne Fantastik; in der Lyrik verbindet er traditionelle Formen mit zeitgenössischen, nicht selten provokativen Inhalten, während sein medial innovatives, stilbildendes Weblog 'Die Dschungel. Anderswelt' auf radikale Weise das poetologische Prinzip einer Verwandlung von Biografie in digitale Romanform betreibt. In diesem Heft werden erstmals Poesie und Poetologie, Traditionen und Medien, Diskursumfeld und Selbstpositionierung dieses in der Gegenwartsliteratur singulären Werkes und seines Autors umfassend dargestellt. Mit Beiträgen von Hans Richard Brittnacher, Denise Dumschat-Rehfeldt, Jost Eickmeyer, Renate Giacomuzzi, Alban Nikolai Herbst, Christoph Jürgensen, Phyllis Kiehl, Wilhelm Kühlmann, Albert Meier, Benjamin Stein.

Dr. Jost Eickmeyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Rostock; DFG-Forschungsgruppe ?Geistliche Intermedialität i. d. Frühen Neuzeit?. Veröffentlichungen zur Literatur& Kultur der Frühen Neuzeit, Antikenrezeption, Literatur des 20./21. Jahrhunderts sowie Radiokunst& Hörspiel. Prof. Dr. Christoph Jürgensen, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung an der Universität Bamberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, etwa zur antinapoleonischen Literatur, Arno Schmidt sowie zu Autorinszenierungen PD Dr. Uwe Schütte lebt als Autor und Literaturwissenschaftler in Berlin. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Studien zur Gegenwartsliteratur sowie Einführungen in Leben und Werk von Thomas Bernhard, W. G. Sebald und Heiner Müller veröffentlicht.

Wilhelm Kühlmann

»Du bist am Schluß alleine«
Zur lyrischen Polyphonie des Alban Nikolai Herbst


Der Proteus und Nereus eines erschreckend unabsehbaren Prosameeres, der sich vervielfältigende, auch elektronisch redefreudige Erzähler und Figurant verschachtelter Fantasiewelten, der Skurrilität und Skandal nicht scheuende Rambo und thesenfreudige Paria des zahmen Literaturbetriebs, der gern sich und andere mit Nadelstichen oder auch Keulenschlägen quält, das imponierend begabte Multitalent, das, bisweilen in Musiksphären entschwindend, fast alle Literaturlandschaften, auch auf Reisen, im Kopf spazieren führt, offen oder latent zitiert, auch essayistisch verarbeitet, der unendlich fruchtbare und stupend fleißige (ja, das auch!), seltene Repräsentant einer Literarizität, an der man studieren kann und soll, was mit ›Postmoderne‹ irgendwie gemeint sein könnte, dahinter, erahnbar, der eigentlich scheue, sich gern selbst in Doppel- und Dreifachgängern entziehende, biografisch verwundete oder auch sich überschreiende, manchmal in sich peinlich verliebte, sich selbst inszenierende, doch immer wieder sich selbst bezweifelnde, in Momenten sich selbst zermarternde sensible Bildungsbürger, eine aussterbendespecies, das alles und viel mehr ist Alban Nikolai Herbst, doch auch ein Lyriker? – Ja, darf man sagen, aber wie? Die Frage ist mittlerweile auf imposante Weise beantwortet in einer Reihe von Lyrikbänden, die hier in den Fußnoten zusammengestellt sind und im Folgenden (auf engem Raum nur exemplarisch) mit den dort angegebenen Chiffren samt Seitenzahlen zitiert werden. Dazu gehören auch die wahrhaft virtuosen, im synoptischen Wettbewerb mit Hartmut Schulze vorgelegten, hier nicht zu würdigenden Übersetzungen von Joyce’ Zyklus »Chamber Music«.1

Als Lyriker präsentiert sich Herbst nicht in steilen ›hermetischen‹ Bildfluchten oder absoluten Metaphern, auch nicht als programmatischer Formzertrümmerer, der die eigenen Schreibprobleme ausbreitet oder die Hilflosigkeit des Lesers still genießt. Denn derartige Konventionen eines mittlerweile routinierten, reichlich abgestandenen Avantgardismus sind Herbst längst langweilig geworden. Deshalb verwendet er, der Musikkenner, der in »Der Engel Ordnungen«2 einen großen Zyklus auf den italienischen Komponisten Conte G. F. M. Scelsi (gest. 1988) einbaut (115–138), weiterhin (besser: wiederum) gern auch variable, kunstvoll kalkulierte Reimbindungen mit kulinarisch wirkender Klangfülle, gerechtfertigt in demarguten Dreizeiler (EO 78):

Übertretungen

Die Wiederkehr des Reims, der Formen

bricht wie ihr Bruch vorher die

Normen.

Aus einer Partyszene, die ähnlich wie Benns »Untergrundbahn« von obsessiven Männerblicken erotisch aufgeladen, nun jedoch von »blecherner« Popmusik beschallt wird, entsteht unversehens – Herbst liebt die Kontraste – ein formstrenges, daktylisch aufgelockertes Sonett, eines s