Wilhelm Kühlmann
Der Proteus und Nereus eines erschreckend unabsehbaren Prosameeres, der sich vervielfältigende, auch elektronisch redefreudige Erzähler und Figurant verschachtelter Fantasiewelten, der Skurrilität und Skandal nicht scheuende Rambo und thesenfreudige Paria des zahmen Literaturbetriebs, der gern sich und andere mit Nadelstichen oder auch Keulenschlägen quält, das imponierend begabte Multitalent, das, bisweilen in Musiksphären entschwindend, fast alle Literaturlandschaften, auch auf Reisen, im Kopf spazieren führt, offen oder latent zitiert, auch essayistisch verarbeitet, der unendlich fruchtbare und stupend fleißige (ja, das auch!), seltene Repräsentant einer Literarizität, an der man studieren kann und soll, was mit ›Postmoderne‹ irgendwie gemeint sein könnte, dahinter, erahnbar, der eigentlich scheue, sich gern selbst in Doppel- und Dreifachgängern entziehende, biografisch verwundete oder auch sich überschreiende, manchmal in sich peinlich verliebte, sich selbst inszenierende, doch immer wieder sich selbst bezweifelnde, in Momenten sich selbst zermarternde sensible Bildungsbürger, eine aussterbendespecies, das alles und viel mehr ist Alban Nikolai Herbst, doch auch ein Lyriker? – Ja, darf man sagen, aber wie? Die Frage ist mittlerweile auf imposante Weise beantwortet in einer Reihe von Lyrikbänden, die hier in den Fußnoten zusammengestellt sind und im Folgenden (auf engem Raum nur exemplarisch) mit den dort angegebenen Chiffren samt Seitenzahlen zitiert werden. Dazu gehören auch die wahrhaft virtuosen, im synoptischen Wettbewerb mit Hartmut Schulze vorgelegten, hier nicht zu würdigenden Übersetzungen von Joyce’ Zyklus »Chamber Music«.1
Als Lyriker präsentiert sich Herbst nicht in steilen ›hermetischen‹ Bildfluchten oder absoluten Metaphern, auch nicht als programmatischer Formzertrümmerer, der die eigenen Schreibprobleme ausbreitet oder die Hilflosigkeit des Lesers still genießt. Denn derartige Konventionen eines mittlerweile routinierten, reichlich abgestandenen Avantgardismus sind Herbst längst langweilig geworden. Deshalb verwendet er, der Musikkenner, der in »Der Engel Ordnungen«2 einen großen Zyklus auf den italienischen Komponisten Conte G. F. M. Scelsi (gest. 1988) einbaut (115–138), weiterhin (besser: wiederum) gern auch variable, kunstvoll kalkulierte Reimbindungen mit kulinarisch wirkender Klangfülle, gerechtfertigt in demarguten Dreizeiler (EO 78):
Übertretungen
Die Wiederkehr des Reims, der Formen
bricht wie ihr Bruch vorher die
Normen.
Aus einer Partyszene, die ähnlich wie Benns »Untergrundbahn« von obsessiven Männerblicken erotisch aufgeladen, nun jedoch von »blecherner« Popmusik beschallt wird, entsteht unversehens – Herbst liebt die Kontraste – ein formstrenges, daktylisch aufgelockertes Sonett, eines s