Erstes Kapitel
Nina lag wach und betrachtete die Lichtstreifen an der Decke.
Denk nicht mehr daran, sagte sie sich.Schlaf ein!
Draußen in der 56. Straße hupte ein Taxi. Selbst hier oben im vierten Stockwerk auf der Rückseite des Mietshauses machte sich der Straßenlärm bemerkbar. Es war für den Monat Juni sehr heiß, und eine dumpfe Schwüle kam durch die dünnen weißen Gardinen ins Zimmer herein. Im gegenüberliegenden Haus hatte jemand Licht gemacht. Wahrscheinlich, um ins Badezimmer zu gehen. Es musste gegen zwei Uhr morgens sein.
Sie drehte das Kissen auf die kühle Seite und strich die Betttücher glatt. Aber statt abermals zu versuchen einzuschlafen, richtete sie sich plötzlich auf, knipste die Lampe an und griff nach dem Telegramm.
Nina Moffat
242 East 56th Street
New York
Bedaure es dir antun zu müssen, aber heirate Freitag Helen.
Alles Gute! Weldon.
Wer ist Helen? Das Telegramm kommt aus Atlanta. Weldon ist vor etwa zehn Tagen im Auftrag seiner Maklerfirma nach Atlanta gefahren. Er kann diese Helen noch nicht lange gekannt haben. Ein dummes Telegramm! Aber was hätte er telegraphieren sollen? Es gibt keine schmerzlosen Ohrfeigen.
Sie drehte das Licht aus und legte sich zurecht. Zwecklos. Sie musste immerzu an ihn denken. Sie erinnerte sich, wie er ihr, als sie erkältet war, einen heißen Grog gebraut hatte. Wie nett er zu ihren Bekannten gewesen war, wenn sie zum Abendbrot kamen, wie er die Gläser herumgereicht und den freundlichen Wirt gespielt hatte! Weldon in seinem blauen Mantel, wie er mit ihr an einem Sonntagmorgen auf dem Bahnhof stand und den Fahrplan studierte...
Er sieht so gut aus. Ich hätte es gleich wissen müssen. Bei gutaussehenden Männern habe ich nie Glück gehabt.
Ich war ja gar nicht so schrecklich in ihn verliebt, sagte sie sich.Aber es war ein nettes, gemütliches Verhältnis. Andere haben es viel ernster gemeint – Allan zum Beispiel. Aber in meinem schlimmen Alter – dreißig – lässt man sich nicht gern mit einem Telegramm abwimmeln. Das kränkt einen. Man muss es den Leuten erklären. Pfeif auf die Leute – es geht sie nichts an!
Das Licht auf der anderen Seite des Hofes erlosch. Jetzt schien sich kein Lüftchen zu rühren, kein Geräusch war zu hören. Oder doch? Sie merkte, dass sie es schon seit langem gehört hatte – eine Art Kratzen. Sie legte das Ohr an die Wand. Ja, das Geräusch kam bestimmt aus der Nachbarwohnung, aber die Mieter von nebenan waren am Montag ausgezogen. Willy, der Hausmeister, wusste nicht, wer die neuen Mieter sein würden. Vielleicht war im Laufe des Tages jemand eingezogen. Das Kratzen hörte nicht auf, und nach einer Weile schlief Nina ein.
Als das Telefon klingelte, fuhr sie zitternd in die Höhe. Es war noch finster, und sie tastete nach dem Apparat. Vielleicht hatte er sich’s überlegt und rief aus Atlanta an,
»Hör zu, mein Schatz«, sagte Mack, »was pflegte Bismarck zum Frühstück zu essen?«
»Keine Ahnung.«
»Nina, du bist böse. Bitte, denk nach. Ich schreibe eine Szene, in der Bismarck am Frühstückstisch sitzt. Ich muss es wissen.«
»Schau in seiner Biographie nach. Ich schlafe. Das heißt, ich habe geschlafen.«
»Du vergeudest viel Zeit im Bett. Es. ist vier. Morgenstundʼ hat Gold im Mund.«
»Wieder