1. KAPITEL
Esther McDonald rieb sich auf dem Weg zur Arbeit zum x-ten Mal die Augen. Sie hatte gehofft, etwas wacher zu werden, wenn sie auf dem Pfad an der Themse entlangging. Aber die Müdigkeit blieb.
Gestern Abend hatte sie in einem anderen Londoner Krankenhaus bis Mitternacht einen Dienst übernommen und wollte heute nach der Arbeit bei der Agentur wieder anfragen, ob sie Bedarf hätten.
Nicht, dass ihre Stelle in der NICU, der Säuglingsintensivstation, am Queen Victoria Hospital nicht gut bezahlt würde. Und sie liebte ihre Arbeit dort. Zurzeit brauchte sie jedoch jeden Penny, den sie kriegen konnte, und das bedeutete Extraschichten.
Wieder einmal war sie froh darüber, dass sie zwei Ausbildungen gemacht hatte. Deshalb konnte sie nicht nur als Hebamme, sondern auch als Krankenschwester arbeiten. Normalerweise sprang sie am Queen Victoria in der Notaufnahme ein, doch inzwischen war aufgefallen, wie oft sie arbeitete, und der Pflegedienstleiter hatte entsprechende Bemerkungen gemacht. Also meldete Esther sich bei einer Agentur an.
Zusammen mit anderem medizinischen Personal, das zum Frühdienst eintraf, betrat sie das Krankenhaus. Esther machte sich Gedanken um ein winziges Frühchen, das sie in den letzten Tagen betreut hatte. Gestern Nachmittag wirkte der kleine Billy, der in der 24. Schwangerschaftswoche mit einem Herzfehler zur Welt gekommen war, schwächer als sonst. Die junge Mutter wich seit der Geburt nicht von seiner Seite und schien selbst kränker zu werden.
Esther hoffte nur, dass der „Wunderarzt“, von dem alle sprachen, sich das Baby endlich ansehen würde. Billy brauchte eine Operation, die nur wenige auf Neugeborene spezialisierte kardiologische Chirurgen durchführen konnten. Das Problem war nur, dass der Mann in Frankreich ein anderes Kind operiert hatte und Billy deshalb warten musste.
Esther zog sich die hellblaue OP-Kleidung über und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel des Umkleideraums. Puh, sie sah schrecklich aus! Das dezente Make-up, das sie heute Morgen schnell aufgetragen hatte, konnte die dunklen Schatten unter ihren Augen nicht verbergen.
Während sie zur Treppe eilte, knurrte laut und vernehmlich ihr Magen. Sie war so müde gewesen, dass sie bis zur letzten Minute im Bett und für ein Frühstück keine Zeit mehr geblieben war. Vielleicht konnte sie ihre Kolleginnen überreden, dass sie ihr die erste Pause überließen. Bei dem Gedanken an die frisch gebackenen Scones, deren Duft morgens die Cafeteria erfüllte, lächelte sie versonnen.
„Morgen!“, grüßte sie fröhlich, als sie die Intensivstation betrat, verstaute ihre Tasche und wusch sich gründlich die Hände. Jedes Mal, wenn sie durch diese Tür kam, verspürte sie eine besondere Energie. Ein aufblitzender Funke, der sie glücklich machte. Die gedämpfte Beleuchtung, die Geräusche, die Patienten, die ruhige Geschäftigkeit der Kollegen und Kolleginnen, der Geruch – all das sorgte dafür, dass sie sich hier in ihrem Element fühlte.
Nach ihrer Krankenpflege-Ausbildung in Edinburgh war sie nach London gezogen, um sich zur Hebamme ausbilden zu lassen. Nur wenige spezialisierte Krankenhäuser boten ein 18-monatiges Kompakttraining an, und sie war außer sich vor Freude gewesen, als sie den Platz am Queen Victoria ergatterte. Esther schloss Freundschaften, einige der besten ihres Lebens, und auch nach der Ausbildung blieb der Kontakt, obwohl manche Freundinnen inzwischen in der ganzen Welt verstreut waren.
Anfangs erwartete sie noch, eines Tages als Gemeindehebamme zu arbeiten, aber nach ihrem ersten Einsatz auf einer Frühchen-Intensivstation wusste sie, wofür ihr Herz schlug. Die Verletzlichkeit der kleinen Wesen rührte sie, und sie wollte helfen, sie in den ersten Tagen ihres zerbrechlichen Lebens nach Kräften zu schützen. Und sie war froh und dankbar selbst für winzige Fortschritte.
Natürlich ging nicht immer alles gut, und oft musste sie verzweifelte Familien trösten. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, woanders zu arbeiten.
Eine der Hebammen stand auf und hängte sich ihre Tasche über die Schulter.
„Wie geht es Billy?“ Esther warf einen Blick auf das Whiteboard, um sich zu vergewissern, dass sie für ihren Liebli