: Kurt Reumann, Thomas Petersen
: Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin Antisemitismus und die Schwächen unserer Gesprächskultur
: Herbert von Halem Verlag
: 9783869626024
: 1
: CHF 20.00
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 254
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In den vergangenen Jahren haben der Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale und andere antisemitische Vorfälle die deutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt. Es häufen sich die Nachrichten, wonach sich Juden in Deutschland wieder unsicher fühlen und erneut mit dem Gedanken spielen, das Land zu verlassen. Doch nimmt der Antisemitismus in Deutschland und Europa tatsächlich zu? Und wie kann die nichtjüdische Mehrheit einer solchen Entwicklung begegnen? In dem vorliegenden Buch gehen renommierte Wissenschaftler und Journalisten diesen Fragen nach, erläutern die Defizite in der Kommunikationskultur, die einer Verständigung verschiedener Bevölkerungsgruppen im Wege stehen, und entwickeln Vorschläge, wie sie sich überwinden lassen.

Kurt Reumann, Dr., geboren 1934 in Wesselburen, Schleswig-Holstein, war 1970 - 2000 Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Studium der Publizistik, Germanistik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Promotion bei Emil Dovifat 1964. Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Elisabeth Noelle-Neumann am Institut für Demoskopie in Allensbach und am Institut für Publizistik der Johannes-Gutenberg-Universitä Mainz. 1970 Wechsel zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im Politikressort zuständig für Bildungspolitik, Umfrageforschung und Wahlanalysen. Von 1988 an auch verantwortlich für die Schülerwerkstatt 'Jugend Schreibt/Zeitung in der Schule'. Mitglied in der Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften zu Erfurt. Thomas Petersen, PD Dr., geboren 1968 in Hamburg. Studierte 1987 bis 1992 an der Universität Mainz Publizistik, Alte Geschichte und Vor- und Frühgeschichte. 1993 Magister. 2001 Promotion. 2010 Habilitation. 1990 bis 1992 Journalist beim Südwestfunk in Mainz. Seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demoskopie Allensbach, seit 1999 Projektleiter. Darüber hinaus ist er seit 2010 Privatdozent für Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität Dresden.

KURT REUMANN


Der Mond ist in der Leipziger Straße am größten. Über das Heimweh vieler Juden in aller Welt nach Berlin


Selten hat mich etwas so getroffen wie Ze’ev Avrahamis Vorwurf: »Ihr habt uns im Stich gelassen!« Mit »ihr« meint der deutsch-israelische Journalist die dritte Generation der ›Post-Holocaust-Deutschen‹, mit »uns« die jungen Juden, die nach Deutschland gezogen sind, weil sie dachten, im inzwischen geläuterten ›Land der Täter und ihrer Enkel‹ könnten sie unbehelligt als Juden leben – freier, geselliger und solidarischer als woanders in der Welt. Avrahamis Anklage muss als Hilferuf verstanden werden. Zweieinhalb Jahre vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle erhoben, klingt er heute umso dringlicher.

Nahezu 2.000 Jahre haben die Juden in der Diaspora als verfolgte Minderheit gelebt.1 Fast immer und fast überall saßen sie in Sorge, ihre neue Heimat verlassen zu müssen, auf ihren Koffern, und Avrahami weiß darüber zu berichten, dass manche seiner Freunde schon wieder ihre Koffer packen. Aber es ist doch sehr die Frage, ob sie auch wirklich fortziehen. Wohin sie sich auch wenden mögen, bedroht sind sie überall – und zwar stärker als in Deutschland. Über den mehrfach wiederholten Aufruf des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu an die Juden Europas, nach Israel ›heimzukommen‹, kann Avrahami nur lachen. Bitter lachen. Es ziehen erheblich mehr Juden nach Deutschland, als Juden Deutschland den Rücken kehren. Allein nach Berlin sind im Laufe der Jahre 20.000 Juden aus Israel gekommen. In dem DokumentarfilmGermans and Jews lässt die New Yorker Regisseurin Janina Quint einen Globetrotter zu Wort kommen, der beteuert: »Ehrlich, ich fühle mich in Deutschland sicherer als in Israel.« Berlin fänden junge Leute inzwischen »heißer als New York«. Dabei gilt es zu beachten, dass der Film, der seit 2020 auch in deutschen Kinos gezeigt wird, bereits 2016 gedreht worden ist.2

Zwar sorgt sich Felix Klein, seit 2018 Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, dass der Hass auf Juden in Berlin besonders schlimm wüte. Die polizeiliche Kriminalstatistik zählt pro Tag vier judenfeindliche Gewalttaten in Berlin. Aber Klein hat auch Augen für die positive Seite: In der deutschen Hauptstadt sind Juden besonders gut integriert. Alle Provokationen, alle Händel ändern daran nichts. Reicht das aus, um jüdische Globetrotter einzuladen, weiter von Berlin zu träumen? Ja, beteuert die 33 Jahre alte Autorin Deborah Feldman, die nach der Trennung von der orthodoxen Glaubensgemeinschaft der Chassiden mit ihrem damals drei Jahre alten Sohn