„Warum hat sich Hemingway eigentlich umgebracht? Ich meine, er schreibt unsterbliche Literatur, könnte stolz auf sich sein.“
„Bitte hör auf, solche Fragen zu stellen, das deprimiert mich.“
„Nein, das ist gut, das hilft mir, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Stell dir vor, du bist in guter Gesellschaft … Hemingway, mein Gott.“
„Wie hat er es gemacht?“
„Erschossen mit einer Flinte. Er nannte sie „meine glatte braune Geliebte“.
„Wieso weißt du so was?“
„Anregungen. Ich hol mir Anregungen.“
Das sind die Dialoge, die in dieser Nacht geführt wurden. Es war scheißkalt, es regnete, das Wasser lief einem das Gesicht hinunter. Aber wir waren da.
Frankfurt, auf dem Dach eines Hochhauses. Ein Wunder hatte dafür gesorgt. Ein Wunder, ja. Das war vor drei Jahren. Ein Wunder in Gestalt von Michi. Er war Hausmeister in diesem Banken- und Versicherungsturm und er hatte den Schlüssel zur Stahltür. Anders kommt man nicht auf diese Dächer.
Und! Nächstes Wunder: Michi war entschlossen wie wir. Sonst hätte es nicht geklappt.
Ich dachte nur: Noch nie in meinem Leben hat mir das Schicksal so in die Hände gespielt.
Alles war zu Ende gegangen. Ich kann dir leider nicht sagen, wie. Ich komme da nicht hin. Ich kann es nicht aufschreiben, auch heute nicht, drei Jahre später. Es ist zu … Ich kann es nicht. Später vielleicht. Nur das eine: Sie waren weg. Der Vater und seine beiden Kinder. Meine Kinder, mein Mann. Verstorben. Ein Unfall. Ich hatte nur den einen Gedanken: Ich will dahin, wo ihr seid, meine Familie. Aber das war nicht so einfach. Ich hatte keine Kraft. Ich hatte nicht genügend Kraft, um den Gang über die Regenbogenbrücke anzutreten. Ich hatte keine Kraft mehr zu leben und zu sterben erst recht nicht. Das war vor drei Jahren. Ich konnte nur beten, dass eine höhere Macht mir helfen würde.
Und dann … du kennst das. Plötzlich ist es da. Du weißt: Jetzt! Ja! Ein Wunder: Diese Facebook-Gruppe mit dem Namen „Wenn alles zu Ende geht“ auf meinem Bildschirm – einfach so aufgetaucht. Keine Ahnung durch welche Hobbys oder Cookies oder Apps sie mich gefunden haben. Keine Ahnung, in welcher Verfassung ich war, als ich auf „Beitreten“ klickte.
Das ging dann so: Michi war der Moderator. Erst mal abchecken, wer ich bin, wollte er. Per Facebook-Nachricht.
„Hey, Viola, wir sind auf dem Weg ins Paradies. Und du?“
Ich: „Na klar, ich auch.“
Michi: „Wir sind überzeugt, dass es jenseits der bekannten Wirklichkeit liegt.“
Ich (denke):Sekte? Drogen? Oder irgendeine sexuelle Obsession … Ich sage Michi ganz ehrlich, dass ich zu fertig bin für solche Dinge. Und da stellt sich heraus, dass es sich bei „Wer bist du, wenn alles zu Ende geht?“ um eine Gruppe von Lebensmüden handelt. Genau wie ich. Ich werde freigeschaltet.
Und dann das zweite Wunder: Sie haben einen konkreten Plan. Michi, der Moderator der Gruppe, hat den Schlüssel für ein Hochhausdach in der Frankfurter City und da gibt es eine Stelle, wo man hinunterfallen kann und auf einem Rasen landet, ein abgezäuntes Stück, wo man auch keinem auf den Kopf fällt. Ist das nicht genial?
Es tut mir leid, wenn ich hier solche Szenarien vor dir ausbreite. Ich will, dass du mich verstehst, wo ich herkomme, welchen Weg ich gegangen bin. Ich muss das alles einfach einmal aufschreiben, ich glaube, das ist der einzige Weg, um da rauszukommen.
Denn jetzt sitze ich hier im wunderschönen Jamaica. Und so viele haben schon meinen Text von gestern gelesen und so berührende und aufrichtige Kommentare und liebe Sätze geschrieben auf Facebook und vielleicht ist das Leben doch irgendwie machbar. Auch wenn es irgendwie …
Also in der Facebook-Gruppe von Michi habe ich erfahren, dass es gar nicht so einfach ist, in die andere Wirklichkeit überzuwechseln, sprich über die Regenbogenbrücke zu gehen wie Hemingway mit seiner glatten, braunen Geliebten.
Wer bist du, wenn alles zu Ende geht? Das war die Frage zur Begrüßung in der Facebook-Gruppe. „Ich bin Viola, i