Das Themenfeld der neuronalen und mentalen Entwicklungsstörungen (ES) ist neu im Kanon der großen Klassifikationssysteme psychischer Störungen. Es wurde im Jahr 2013 zunächst im DSM-5 eingeführt und in der 11. Version der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11), die in diesem Jahr (2022) in Kraft trat, übernommen. Im DSM-5 wurden dabei die großen Störungsbilder der Störungen der Intelligenzentwicklung (SIE), der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und der Tic-Störungen (TS) gemeinsam mit der ehemaligen Gruppe der Umschriebenen Entwicklungsstörungen aus der ICD-10 wie den Sprachentwicklungsstörungen, den spezifischen Lernstörungen sowie den motorischen Störungen zusammengefasst. Im ICD-11 wurde dies weitgehend übernommen, wobei die Tic-Störungen und deren komplexe Variante, das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, zwar aufgeführt, nosologisch allerdings als neurologisches Krankheitsbild kodiert werden. Bereits dieses kleine Detail verdeutlicht, dass vieles in diesem neuen Bereich im Sinne einer nosologischen Grundkategorie noch unklar ist – nämlich z. B. die Frage, ob die Tic-Störungen als neurologisches Krankheitsbild oder als psychische Störung verstanden werden sollten. Gleichzeitig macht die Tatsache, dass die Entwicklungsstörungen allen anderen Krankheitsgruppen vorangestellt werden, klar, dass sich hier für die psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Fächer ein ganz neues Themenfeld auftut. Die Entwicklungsstörungen wurden lange Zeit als Thema der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, vielleicht noch der Neuropädiatrie, betrachtet. Dass sie auch für die Erwachsenenpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik von zentraler Bedeutung sein könnten, wurde lange nicht gesehen.
Diese Grundannahme wurde in den letzten Dekaden in verschiedenen Wellen erschüttert. Zunächst erlebte das Thema der ADHS und etwa eine Dekade später das der ASS einen enormen Aufschwung in der Erwachsenenpsychiatrie. Die Tic-Störungen scheinen aktuell auf Ebene der großen Kongresse zumindest in der Psychiatrie »anzukommen« und das Themenfeld der Störungen der Intelligenzentwicklung wird wahrscheinlich mit einer weiteren Latenz von einer Dekade folgen. Herrschte ursprünglich für alle großen Themen der Entwicklungsstörungen implizit die Annahme vor, dass sie insbesondere im psychotherapeutischen und psychosomatischen Kontext nicht besonders relevant seien, so wird auch diese Überzeugung in