: Julya Rabinowich
: Herznovelle
: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag
: 9783552061668
: 1
: CHF 10.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Frau wird von ihrem Mann ins Krankenhaus gebracht, zu einer Herzoperation. Die beiden wirken wie Schlafwandler, keiner scheint den anderen wahrzunehmen. Nach einer erfolgreichen Operation kehrt sie schon nach wenigen Wochen nach Hause zurück. Doch schon bald plagen sie Träume, in denen sie mehr lebt als in ihrem realen Leben. Sie findet in den Alltag vor ihrer Operation nicht mehr zurück. Im Krankenhaus begibt sie sich auf die Suche nach dem Herzspezialisten, ihrem Lebensretter, der ihr Herz berührt hat. In der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart ist Julya Rabinowich eine neue Stimme, die aufhorchen lässt. 'Herznovelle' ist ein Text über die große Sehnsucht nach einem Leben vor dem Tod.

Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Autorin, Bildende Künstlerin, Simultandolmetscherin, Kolumnistin in der österreichischen Tageszeitung 'Der Standard'. Für ihren Debütroman Spaltkopf (2008) erhielt sie u.a. den Rauriser Literaturpreis (2009). 2011 nahm sie an den Tagen der deutschsprachigen Literatur (Bachmann-Preis, Shortlist) teil. Ihr Debütroman Spaltkopf wurde in mehrere Sprachen (u.a. Englisch) übersetzt. Zahlreiche Aufführungen ihrer Theaterstücke (u.a. Volkstheater, Schauspielhaus Wien). Bei Deuticke erschienen Herznovelle (2011, nominiert für den Prix du Livre Européen) und die Romane Die Erdfresserin (2012) und Krötenliebe (2016). Dazwischen: Ich (2016) ist ihr erstes Jugendbuch.
I. Hasenherz (S. 11-12)

Bernhard steht im Badezimmer und kontrolliert mich beim Kontrollieren des Spiegelschränkchens. Ich sehe sein besorgtes Gesicht, halb verdeckt von meinem, ein Auge mit dunklem Brillenrand späht hinter meinen Haaren hervor. Ich kann es nicht leiden, wenn er besorgt ist, dasüberträgt sich und besorgt mich gleich mit. Ich habe eigene Sorgen und benötige seine nicht.

Er pflegt sie, seine Sorge, eine Bewegung von mir nicht rechtzeitig mitzubekommen, zu spät zu sein, nicht hilfreich genug, nicht zur Stelle, an der man ihn brauchen könnte.Ich schließe die spiegelnde Tür, sein Gesicht gleitet mit ihr zur Seite, weg aus meinem Gesichtsfeld, aber ich höre seinen Atem immer noch hinter mir, spüre seinen Körper an der Schwelle. Seine Sorge steht hinter ihm,überragt ihn genau um das Stück, das den Abstand seines Kopfesüber meinem ausmacht. Ich habe keine Lust, Teil einer Sorgenmatrjoschka-Serie zu sein.»Hast du die Koffer schon hinuntergetragen?«, frage ich, um ihn aus dem Weg zu bekommen.

»Ja«, sagt er,»ich wollte nur nachsehen.«»Ich bin gleich fertig.«»Ja. Ich weiß.«Er rührt sich nicht vom Fleck. Die Luft wird knapp im Bad, das warm und feucht ist, ich habe gerade noch eine Dusche genommen, der große Spiegel neben der Wanne ist beschlagen, das Handtuch habe ich achtlos auf den Boden geworfen, weiß mit mintfarbenem Rand auf beigen Kacheln.Ich hebe meinen Fuß mit sauber manikürten Nägeln und setze ihn auf den Stoff, meine Zehen sinken in die dichten Fasern, die vollgesogen sind mit Feuchtigkeit.

Ich sehe im Nebel des Spiegels große rote Flecken auf meiner Haut, die sichüber die zarten Fältchen des Dekolletés gebreitet haben. Wenn ich einen solchen Fleck berühre, wird er unheimlich weiß in der Mitte, bevor er in ein noch tieferes Rot wechselt.Ich werde mich jetzt nicht kratzen.Die Flecken brauchen Zeit zum Verschwinden.Ich habe Zeit.

Es riecht nach guter Seife und meinem Parfum. Ich halte die Flasche immer noch in der Hand. Goldener Verschluss mit den Firmeninitialen, zwei C ineinander verschlungen, meine Finger auf der Flasche mit goldenem Ring am Ringfinger, zwei Goldstränge, ebenfalls ineinander verwoben, ich muss dran denken, dass unsere Eheringe von Chanel inspiriert worden sind und dass die Flasche mit»Allure« beschriftet ist, und muss lächeln.Bernhard lächelt mit.