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Anatomie als Geschichte
Das Studium des Yoga und das Studium der westlichen Anatomie sind tiefgründige und reichhaltige Forschungsgebiete, die uns neue Sichtweisen dessen eröffnen, wer wir sind und wie wir uns bewegen, wie wir denken, fühlen und die Welt erleben. Diese Forschungsfelder konfrontieren uns mit Fragen über das Wesen des Lebens: Was es bedeutet, menschlich zu sein, wie unser Sein überhaupt begann und was sein Zweck sein könnte.
In diesem Buch befassen wir uns eingehend mit dem Schnittpunkt dieser beiden Felder: Welche Kenntnisse gewinnen wir, welche Fragen stellen sich und welche neuen Perspektiven werden möglich, wenn wir westliches anatomisches Wissen auf den Yoga anwenden? In den ersten sechs Kapiteln gehen wir Begriffen und Ideen auf den Grund, die dir bei deiner Beschäftigung mit den Asana-Analysen in den späteren Kapiteln helfen mögen.
Bevor wir jedoch eintauchen, sollten wir anerkennen, dass jedes Forschungsfeld – Yoga wie Anatomie – eine bestimmte Perspektive oder einen bestimmten Kontext mit sich bringt, eine Brille, durch die man die Welt betrachtet. Jedes Feld hat auch eine Art Landkarte, um das Beobachtete einzuordnen und das Erlebte zu benennen. Die jeweiligen Karten sind nicht dieselben; sie tragen die Prägung unterschiedlicher Kulturen und vermitteln unterschiedliche Werte.
Unsere Arbeit als Autorenteam ist auch von unserer Geschichte und unseren Werten geprägt, und was wir schreiben, entstammt unserem Blick und unserem Kontext. Wir haben sowohl westliche Philosophie als auch Yoga nach T. K. V. Desikachar studiert. Leslies Arbeit in der Sportmedizin und der manuellen Therapie hat seine Sichtweise geprägt, ebenso wie Amys Arbeit mit somatischen Bewegungsmethoden. Es ist wichtig, sich Kontext und Perspektive eines Ansatzes bewusst zu machen, damit man weiß, welche (und wessen) Werte unseren Erkenntnisweg prägen, und damit man entscheiden kann, wo sich diese Perspektiven mit dem eigenen Kontext, den eigenen Werten und Weltkarten überschneiden.
Später in diesem Kapitel werden wir einen Überblick über die traditionellen Prinzipien der Anatomie und Kinesiologie skizzieren. Aber zunächst wollen wir das, was wir unter »Kontext« und »Karten« verstehen, gründlicher erläutern.
Der individuelle Kontext
Wenn wir Menschen Asanas machen sehen (oder die Straße entlanggehen oder Basketball spielen oder Geschirr spülen), dann gibt es einiges zu bemerken: was sie tragen, welche Form ihr Körper hat, welche Körperteile sich bewegen, welche Farbe ihr Haar, ihre Haut und ihre Augen haben, wie schnell oder langsam sie sich bewegen und so weiter. Au