Kapitel 2
Als Claire gegen Mittag die Küche betrat, war schmutziges Frühstücksgeschirr das Einzige, was von ihren Mitbewohnern zu sehen war. Sie ließ es links liegen und steuerte den Kaffeeautomaten an – das luxuriöseste und zugleich unverzichtbarste Haushaltsgerät im Besitz derWG, deren jüngstes Mitglied sie war, und das sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Ben war schon im fünften Semester und Jenny sogar im siebten. Nachdem ihr dritter Mitbewohner sein Studium abgeschlossen hatte und weggezogen war, hatten sie genau zu dem Zeitpunkt einen »Zimmer frei«-Aushang ans Schwarze Brett gehängt, als Claire davorstand, um nach einer Unterkunft Ausschau zu halten. Die Suche hatte sich damit für beide Seiten umgehend erledigt.
»Man kann auch mal Glück haben«, hatte Ben grinsend kommentiert, und sie hatte genickt. Irgendwie war es ihr gelungen, Freude vorzutäuschen. In Wahrheit war sie dazu nicht in der Lage gewesen. Schließlich war Colins Tod erst dreieinhalb Wochen her.
Jetzt, weitere sieben Wochen später, begriff sie durchaus, was für ein Wahnsinnsglück sie bei der Wohnungssuche wohl gehabt hatte. Doch echte Freude darüber empfand sie noch immer nicht. Wie könnte sie auch! Wahres Glück hätte anders ausgesehen. Auf jeden Fall hätte einer ihrer Mitbewohner Colin geheißen. Wahrscheinlich hätten sie gemeinsam eine Zweier-WG gegründet.Never change a winning team, hieß es nicht so? Tja, aber dann war alles so anders gekommen.
Ursprünglich hatten sie vorgehabt, nach Colins Rückkehr aus Hawaii auf Wohnungssuche zu gehen. Und sich dann in Ruhe in der neuen Stadt einzuleben, bevor das Semester im Herbst startete. Diesen Plan nun allein durchzuziehen und tatsächlich schon so lange vor Vorlesungsbeginn umzuziehen, war eine ganz spontane Entscheidung gewesen. Zu Hause hatte Claire es einfach nicht länger ausgehalten. Dort hatte sie alles an Colin erinnert. Überall hatte er seine Spuren hinterlassen: seine Zeitschriften, seine Sportsachen, seine Lieblingskaugummis. Und dann der leere Stuhl am Tisch …
Ihre Eltern ertrugen die Trauer nur, indem sie sich noch mehr als sonst in die Arbeit stürzten. Da hatte Claire beschlossen, es ebenfalls mit dieser Strategie zu probieren.
Und hier war sie nun. In dieser verwohnten Küche, in der es mehr schmutziges Geschirr auf der Arbeitsplatte als sauberes im Schrank gab. Die grasgrüne Kaffeetasse in ihrer Hand trug die Aufschrift »Morgenmuffel«. Sie hatte ihrem Vormieter gehört, und Claire hatte sie mitsamt seiner wackeligen Bücherregale, dem zerschrammten Schreibtisch und dem halb vertrockneten Gummibaum übernommen.
Die Tasse passte perfekt zu ihr. Sie war morgens keine gute Gesprächspartnerin. Zum Glück erwartete das hier auch niemand von ihr. Ihre Mitbewohner waren zwar nett, aber selten zu Hause, und wenn doch, ließen sie Claire meist in Ruhe. Sie schienen zu spüren, dass sie weder auf Small Talk aus war noch ausgefragt werden wollte.
Vielleicht war sie ihnen auch gleichgültig? Ben war vollauf mit seinen wechselnden Freundinnen beschäftigt, und Jenny trieb in jeder freien Minute Sport. So auch jetzt. Noch im Bett liegend, hatte Claire mitbekommen, wie Ben und seine aktuelle Eroberung ins Schwimmbad aufgebrochen waren und Jenny ihr Rennrad durch den Flur gerollt hatte, um wenig später die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zu ziehen. Claire hätte weder