Heißhunger
Sie hungert, seit sie sechzehn ist. Gern gegessen hat sie nie. Hatte keinen Appetit. Dann war alles Ekel. Sie kann nur noch Flüssiges zu sich nehmen. Strohhalm statt Besteck, ein unverzichtbares Utensil der Abgrenzung. Zu kauen, mit den Zähnen zu zerteilen, zu zerreißen, zu zermalmen, widert sie an. Zerkleinerten Nahrungsbrei mit Speichel einzuschleimen, im Mund mit der Verdauung zu beginnen, Zersetzung auf der Zunge zu spüren, vergorene Reste, die zwischen den Zähnen zurückbleiben. Abartig, widerwärtig, grauenerregend.
Sie reduziert den Akt der Nahrungsaufnahme auf wenige Minuten täglich. Ein paar Schlucke, runter damit, Zähne putzen, schrubben, bis das Zahnfleisch blutig protestiert. Keine kollektive Speisung, kein Restaurant, keine Kantine. Bei Würstelständen, Döner- und Pizzabuden den Blick senken, Luft anhalten, ignorieren.
Sie war immer schon schlank, jetzt ist sie dünn, doch erstaunlicherweise pendelte sich ihr Gewicht ein– knapp oberhalb der Grenze zur Unterernährung. Der Busen gepusht, die Taille betont, neiderregende Modelmaße.»Ich esse nichts«, ihre Erklärung. Ungläubige Missgunst die Antwort. Sieänderte ihre Strategie, erzählt von Ananas auf Kochschinken, harten Eiern und Avocados. Ihre Diät wird nachexerziert. Sie hat Ruhe.
Essen bestimmt ihr Leben. Es ist anstrengend, ihm auszuweichen, zu vermeiden, andere Menschen kauen, schmatzen, schlucken zu sehen. Nahrungsverweigerung ist eine zeitaufwändige Beschäftigung. Beim Ausgehen beschränkt sie sich auf klassische Konzerte, ab und zu ein Ballett, selten Theater, nur wenn sie das Stück kennt, sichüber die Inszenierung informiert hat, weiß, dass kein Essen vorkommt. In den Pausen bleibt sie sitzen, meidet das Büfett, das Theatercafé, die Bar. Sogar dort wird allzu oft Essbares kredenzt, stopfen, fressen, schlingen die Besucher Gratisnüsse und Cracker in sich hinein, als gäbe es kein Morgen. Ihre Phobie verleidet ihr Film und Fernsehen, Theater und Kabarett. Viel zu oft wird gegessen, ist Essen ein Thema. Essen ist das Eine, Sex spielt in den Medien, im Leben nur eine untergeordnete Rolle, aber das sehen die anderen nicht, das erkennt nur sie.
Kochshows erfüllen sie mit Entsetzen. Die aufgereihten Zutaten jagen ihr eine Gänsehautüber den Rücken. Prall-leuchtende Tomaten, innen quatschig rot, fettglänzende Butter, wurmartige Spaghetti, krötenhäutige Avocados, pelzige Pfirsiche. Fleisch, blutig, mit Fett durchsetzt. Hingeschlachtete Fische mit vorwurfsvoll starrenden Augen. Des Lebens und ihrer Federn beraubte Vögel. Innere Organe, schleimig, glänzend. Manchmal bleibt sie wie ein Kind bei einem verbotenen Horrorfilm hängen, starrt fasziniert und vom Ekel gebeutelt hin, wenn zu Saucen, Aufläufen, Terrinen verkocht und verbraten wird. Wenn Fleisch geklopft, gehackt, faschiert wird. Wenn enthusiastische Futterfabrikanten tief ins Unerträgliche tauchen, kneten, schneiden, dünsten, arrangieren, servieren. Material für Alpträume, die in die Realitätüberschwappen.
Sie fühlt sich fremd, findet sich in der von Esskapaden durchsetzten Welt nicht zurecht. Ihre Flucht ist anstrengend. Anders zu sein liegt ihr nicht. Sie will nicht auffallen, will in der Menge verschwinden, keinen Eindruck hinterlassen. Um anonym zu bleiben, muss sie sich tarnen. Sie lebt ein Scheinleben. So-tun-als-ob ist ihr zur zweiten Natur geworden. Ein fadenscheiniger Umhang, der die grelle Musterung ihrer Besonderheit verbirgt, sie vor Neugier, Mitleid und Ausgrenzung schützt. Bei unvermeidlichen, zum Glück raren Zusammenkünften, Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Taufen hat sie diese Kunst zur Vervollkommnung gebracht. Sie hat sich unter Kontrolle, verschiebt das Aufgetischte mit sorgfältiger Präzision auf ihrem Teller, arrangiert akribisch Stillleben der Sättigung. Führt ab und zu die leere Gabel zum Mund, lobt, falls angebracht, das Aufgetischte, tarnt sich in stiller Unauffälligkeit. Sie harrt gerade so lange aus, wie es die Höflichkeit erfordert. Selbst im Aufbruch muss sie sich beherrschen, darf nicht erahnen lassen, dass sie auf der Flucht ist, dass sie nur weg will, dem Horror entkommen.
Manchmal träumt sie davon, zu essen. Wahre Berge in sich hineinzustopfen, zu schlingen, sich die Finger abzulecken, nach mehr zu gieren, satt zu sein. In diesen Träumen ist kein Platz für Ekel, für Angst. In diesen Träumen fühlt sie sich frei, so normal, so normal. Wenn sie aufwacht, hält sie die Augen geschlossen, versucht, den unterschiedlichen Geschmäckern nachzuspüren, beschwört nahrhafte Visionen herauf. Doch der Ekel, ihr ewiger Begleiter, zwingt sie, die Augen aufzureißen, den Brechreiz zu unterdrücken, aufzugeben.
Sie sitzt in der U-Bahn, geschützt von einer Gratiszeitungsmauer. Ein Essverbot inöffentlichen Verkehrsmitteln wirdüberlegt. Im Moment wünscht sie sich nichts sehnlicher. Masochistische Neugier zwingt sie dazu, die Zeitung zu senken. Ihr gegenüber sitzt sie. Alles an