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Biegsam wie Gummi
Um das zu werden, was wir einen »Star« nennen, braucht man mehr als außergewöhnliches Talent in einer der darstellenden Künste: Offenbar muss man dafür auch eine innere Leere empfinden, so unergründlich und schwarz, wie das Sternenlicht hell und strahlend ist.
Normale, glückliche, ausgeglichene Leute werden in der Regel keine Stars. Meist sind es Menschen, die in ihren frühen Jahren ein Trauma erlebt haben oder unter Entbehrungen litten. Diese Erfahrung treibt sie an, um jeden Preis zu Reichtum und Ruhm zu gelangen, und nährt ihren unersättlichen Hunger nach Liebe und Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Wir verleihen ihnen einerseits einen nahezu göttlichen Status, sehen in ihnen aber zugleich auch höchst verletzliche Wesen, gepeinigt von den Dämonen der Vergangenheit und Ängsten der Gegenwart, dazu verurteilt, ihr Talent und schließlich auch sich selbst durch Drogen oder Alkohol oder beides zu zerstören. Das galt für die schillerndsten Namen, für Stars, die ab Mitte des20. Jahrhunderts auf der ganzen Welt berühmt waren: Charlie Chaplin, Judy Garland, Marilyn Monroe und Edith Piaf bis zu Elvis Presley, John Lennon, Michael Jackson und Amy Winehouse. Auf sie alle trafen eines oder mehrere dieser Kennzeichen zu. Warum dann nicht auch für Mick Jagger?
Schon mit seinen ersten Atemzügen entzog sich Jagger allen Klischees. Wir gehen gewöhnlich davon aus, dass Stars unter wenig verheißungsvollen Umständen geboren werden, die dann ihren späteren Erfolg nur noch spektakulärer wirken lassen – eine erbärmliche Hütte mit Lehmboden in Mississippi … eine heruntergekommene Hafenstadt … die Garderobe eines schmierigen Varietétheaters … ein Elendsviertel in Paris. Dass jemand aus relativ angenehmen, wenn auch wenig inspirierenden Verhältnissen in der englischen Grafschaft Kent stammt, entspricht nicht unseren Erwartungen.
Der Süden Englands war schon immer der wohlhabendste und privilegierteste Teil des Landes, obwohl die Grafschaften im Umkreis Londons oft abwertend als die »Home Counties« (in etwa: »Schlafdörfer«) bezeichnet werden. Die östlichste in diesem Kreis ist Kent, im Norden begrenzt durch die Themsemündung, im Süden durch die sagenumwobenen weißen Klippen bei Dover und den Ärmelkanal. Wie sein berühmtester Sohn im20. Jahrhundert besitzt Kent ganz verschiedene Seiten. Für die einen ist es der »Garten Englands«, mit seinen waldbedeckten grünen Hügeln (dem Weald), seinen Apfel- und Kirschbaumhainen und den Hopfenfeldern, seinen konischen, aus roten Ziegeln errichteten Scheunen, in denen der Hopfen getrocknet wird. Andere denken bei Kent an die imposante Geschichte der Kathedrale von Canterbury, wo der »rebellische Priester« Thomas Beckett den Tod fand, oder an stattliche Herrenhäuser wie Knole und Sissinghurst, an die verblasste Pracht viktorianischer Badeorte wie Margate und Broadstairs. Wieder andere verbinden Kent mit Kricket auf ländlichen Plätzen, denPickwickiern von Charles Dickens oder dem ehrbaren Kurort Royal Tunbridge Wells, dessen Bewohner mit solchem Eifer Leserbriefe verfassen, dass sie zum Synonym für aufgebrachte ältere Briten geworden sind, die gegen die heutige Moral und die modernen Sitten zu Felde ziehen (solche Leute werden in unserer Geschichte keine geringe Rolle spielen).
Seit Julius Cäsars Legionäre vor2000 Jahren bei Walmer an den Strand gewatet sind, war Kent hauptsächlich ein Durchreisegebiet – für Chaucers Pilger, die »von allen Enden« kamen, um nach Canterbury zu gelangen, für die Heere, die in die Kriege auf dem Kontinent zogen, für den he