: Anja Weiß
: Soziologie Globaler Ungleichheiten
: Suhrkamp
: 9783518751640
: 1
: CHF 22.00
:
: Soziologie
: German
: 374
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Die Soziologie glaubt immer noch an eine Welt starker nationaler Wohlfahrtsstaaten, die für ihre Bürger sorgen. Viele Menschen leben jedoch in Gebieten schwacher Staatlichkeit oder in Staaten, die sie bedrohen. Andere wandern zwischen Staaten oder arbeiten für transnationale Unternehmen. Anja Weiß plädiert in ihrem Buch für einen soziologischen Blick auf globale Ungleichheiten, der diese Kontexte jenseits des Staates endlich ernst nimmt. Dazu unterscheidet sie Räume, die territorial gebunden sind, von sozial differenzierten Feldern und politisch umkämpften Zugehörigkeiten. Lebenschancen, so eine ihrer Thesen, entstehen zwischen Personen und Kontexten - entsprechend heftig wird um den Zugang zu letzteren gekämpft.



<p>Anja Weiß ist Professorin für Makrosoziologie und Transnationale Prozesse an der Universität Duisburg-Essen.</p>

232. Soziale Ungleichheit


Das Museum im Neandertal zeigt am Ende der Ausstellung ein nacktes Baby, das im Zentrum seiner Familie liegt. Das Baby ist von Schattenrissen umgeben, auf deren Vorderseite die Familie der Neandertaler und auf deren Rückseite vergleichbare Verwandte heute abgebildet sind. Der Vergleich soll zeigen, dass es in der Frühgeschichte der Menschheit Familien gab, die den heutigen ähneln. Ob das richtig ist, sei dahingestellt. Man kann jedoch vermuten, dass Kinder damals wie heute mehr Aufmerksamkeit erfuhren als in manch anderen Zeitaltern der Geschichte. Wer mit 20 bis 25 Verwandten alleine in einer menschenleeren Wildnis lebt, wird jedes einzelne Kind wichtig finden. Wahrscheinlich ist außerdem, dass Rollenverteilungen flexibel waren, weil in einer Kleinstgruppe alle auf wechselseitige Hilfe angewiesen sind. Man kann sich schlecht vorstellen, dass eine junge Frau, die gut sehen konnte, am Feuer sitzen blieb, um einem kurzsichtigen Mann das Jagen zu überlassen. Solche Projektionen in die Frühzeit faszinieren das Publikum. Und da historische und interkulturelle Vergleiche zeigen, dass es im Familienleben nichts gibt, was es nicht gibt, sind diese Vermutungen ebenso plausibel wie ihr Gegenteil.

Für die Ungleichheitssoziologie funktioniert ein solcher historischer Vergleich nicht. Sie interessiert sich für die objektiven Handlungsbedingungen, die Menschen vorfinden (vgl. Hradil 1987; Schwinn 2004), die ihnen Chancen bieten, ihre Lebensziele zu verwirklichen (Sen 1985), und die sie zugleich einschränken (Bourdieu 1987; Giddens 1995a). Die Handlungsbedingungen heutiger Menschen sind nicht nur deutlich anders als die der Neandertaler. Sie werden auch durch differenziertere soziale Formationen hervorgebracht. Zum Beispiel ist das Baby, das heute geboren wird, nicht nur Kind einer (Patchwork-)Familie, sondern auch Staatsbürger. Es wird nicht nur in einen Clan, sondern in eine Vielzahl sozial differenzierter Teilsysteme der Gesellschaft hinein sozialisiert – was sich z. B. zeigt, wenn die Großeltern schon nach wenigen Tagen das erste Sparbuch eröffnen oder wenn die Großmutter das Baby in einem ehemaligen »Homeland« am Rande Südafrikas betreut, während die Mutter bei einer weißen Familie in Kapstadt als Dienst24mädchen arbeitet. Eine Gemeinsamkeit ist vielleicht, dass sich das heutige Kind ebenso wie das damalige nicht aussuchen kann, in welche Verhältnisse es hineingeboren wurde. Aber auch hier endet der Vergleich schnell, denn die Lebensbedingungen der Neandertaler waren primär von natürlichen Umständen wie dem Wetter, der Fruchtbarkeit ihrer Umwelt und der Gesundheit der Familienmitglieder geprägt, während heutige Ungleichheiten weniger auf eine objektive Knappheit verfügbarer Ressourcen als vielmehr auf deren sozial institutionalisierte ungleiche Verteilung zurückgehen.

Wir können nicht ausschließen, dass das Kind der Neandertaler auf seinen Onkel neidisch war, weil dieser gut jagen konnte und das beste Essen bekam. Wahrscheinlicher ist, dass es froh war, einen solchen Onkel zu haben, denn mit einem guten Jäger in der Familie hatten alle me