: Ulrich Tadday
: MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Salvatore Sciarrino
: edition text + kritik
: 9783869168258
: 1
: CHF 29.20
:
: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 204
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Salvatore Sciarrino (*1947) ist ein berühmter und vielfach geehrter Komponist der Gegenwart, dessen Entwicklung sich jenseits serieller und postserieller Denkmuster auch in Auseinandersetzung mit historischen Vorbildern vollzogen hat, und dies auf unterschiedlichen Gebieten der Komposition, in unterschiedlichen Gattungen und Genres. Wer Salvatores Sciarrinos Website aufruft, sieht auf der Frontpage ein Tryptichon: zur Linken den vor einer Partitur sitzenden Komponisten, in der Mitte und zur Rechten zwei farbige Gemälde, die durch ihre Struktur, Linien und Farben einen Werkzusammenhang begründen. Sciarrino, der sein Leben sowohl der Musik als auch der bildenden Kunst gewidmet hat, lässt auf den untergeordneten Seiten seiner Homepage aber keinen Zweifel daran, dass er in erster Linie als Komponist und als Individualist und Non-Konformist angesehen werden will. Seine Biografie lässt er lapidar mit dem Satz beginnen: 'Salvatore Sciarrino (Palermo, 1947) si vanta di essere nato libero e non in una scuola di musica.' Das ist witzig und Programm zugleich. Sciarrinos Musik bewirkt eine andere Art des Hörens, eine geänderte Wahrnehmung und ein neues Bewusstsein für die Wirklichkeit wie für sich selbst. Ihren Mittelpunkt bildet im traditionellen Sinn nicht mehr der Autor oder die Partitur, sondern der Hörer. Wie Salvatore Sciarrino die Freiheit seines unkonventionellen Denkens kompositorisch ins Werk setzt, ist Thema des Sonderbandes 2019. Der Sonderband enthält Beiträge von Camilla Bork, Sebastian Claren, Stefan Drees, Regine Elzenheimer, Lukas Haselböck, Jörn Peter Hiekel, Julia Kursell, Marion Saxer, Tobias Eduard Schick und Christian Utz.

Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der 'Musik-Konzepte'.

[4|5]Camilla Bork

Hörbare Körper


Rahmung und Transgression in Salvatore SciarrinosLohengrin

Das Musiktheater der 1960er bis 1980er Jahre lässt sich in wichtigen Zügen als ein Theater der Stimme beschreiben, vor allem der Frauenstimme. Neben Erkundungen aller möglichen Zwischenbereiche zwischen Sprechen und Singen wurden Alltagstonfälle und Geräusche in die Vokalkunst integriert, wie Schluchzen, Gähnen, Schlucken u. Ä., die nun zum Grundvokabular der sogenannten »New Vocality« gehörten. In enger Zusammenarbeit mit Performerinnen wie Cathy Berberian und Martine Viard erforschten Komponisten wie John Cage, Luciano Berio und Georges Aperghis den affektiven Gehalt von Stimme jenseits wortbezogener Semantik. Dabei geht es in vielen dieser Werke bzw. Performances um das Aushandeln von Geschlechterrollen. Und zwar meist unter Bezugnahme auf historische Modelle: sei es als burleskes Spiel mit typischen Gesten der Belcanto-Oper des 19. Jahrhunderts in BeriosRecital1 for Cathy (1972) oder als Erkundungen verschiedener Formen von Bühnenfeminité in Aperghis’Récitations (1978). Letztere reichen von den Explosionen mechanischer Wiederholungen in Anspielung auf die Rossini’sche Buffo-Oper bis hin zu typischen Tonfällen Pariser Diseusen des Kabaretts.1

Salvatore Sciarrinos Musiktheater der 1980er Jahre scheint auf den ersten Blick denkbar fern von diesem Repertoire. Exzessive Vokalität weicht bei Sciarrino pulverisierten Gesten am Rande des Hörbaren. Die Stimme ist nicht mehr Zentrum, sondern eingebettet in geräuschhafte Instrumentalklänge, mit denen sie manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit verschmilzt. Wie bei Aperghis und Berio aber lässt sich auch bei Sciarrino ein Spiel mit Geschlechterrollen und Operntopoi beobachten, das im Folgenden anhand seines 1983 uraufgeführten Einakters für FrauenstimmeLohengrin in einigen Punkten analysiert werden soll.2 Historischer Bezugspunkt ist dabei weniger Wagners[5|6]Lohengrin, wie man vom Titel her vermuten würde. Abgesehen von einigen harmonischen Anspielungen sind die musikalischen und musikdramaturgischen Anbindungen eher lose. Wichtiger scheint stattdessen das aus der traditionellen Wahnsinnszene der Oper bekannte dramaturgische Muster von Rahmung und Transgression, das hier auf vielfältige Weise dekonstruiert wird.3

Weiblicher Wahnsinn gehört seit jeher zu den großen Themen der Operngeschichte: DonizettisLucia di Lammermoor, Elvira aus BellinisIPuritani und Strauss’Salome – fast immer ist es eine der weiblichen Hauptfiguren, deren Vernunft als Folge sexueller Fantasien oder Exzesse auf dem Spiel steht. Das sollte sich auch im 20. Jahrhundert nicht ändern. Unter dem Einfluss von Jean-Martin Charcots Studien zur Hysterie und der Freud’schen Psychoanalyse entwickelte sich gar eine eigene Gattung des Musiktheaters, die die Traumatisierungen weiblicher Psyche in den Mittelpunkt rückt: das Monodram. Bekannteste Beispiele sind neben Arnold SchönbergsErwartung (1909) vor allem Francis PoulencsLa Voix humaine (1959), in der die Protagonistin am Rande des Selbstmords ihren Geliebten am Telefon zu überzeugen versucht, zu ihr zurückzukehren. Im zeitgenössischen Musiktheater spielt die Auseinandersetzung mit Wahnsinn vor allem im Werk Peter Maxwell Davies eine herausragende Rolle und macht zugleich deutlich, dass die Thematik keineswegs nur Frauen vorbehalten ist.4 In seinenEight Songs for a Mad King (1969) erkundet er ausgehend von den vokaltechnischen Extremleistungen Roy Harts die Zusammenhänge von Wahnsinn und Gewalt. Seine beiden später entstandenen Monodramen für FrauenstimmeMiss Donnithorne’s Maggot (1974) undThe Medium (1981) fokussieren hingegen Wahn als Folge enttäuschter Liebeshoffnung bzw. als Erinnerung vergangener Traumatisierung.

Charakteristisch für die Wahnsinnsszenen des 19. Jahrhunderts und zum Teil auch noch für die Monodramen