Die Vorgeschichte | Ein zufälliges Treffen
„Ist das Buch interessant?“
Julia war vertieft in ihr Buch und blickte überrascht auf, als die Stimme neben ihr erklang. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ein älterer Mann neben ihr Platz genommen hatte.
„Entschuldigen Sie, ich habe den Titel zufällig gesehen“, fuhr der Mann fort. Sie saßen beide auf einer Bank im Park. Es war Frühling und die ersten Blüten sprossen aus den Bäumen und Sträuchern. Hundebesitzer spazierten mit ihren Vierbeinern durch die aus dem Winterschlaf erwachende Oase.
Tulpen und Narzissen säumten den Wegesrand. Die Luft war frisch und roch nach Hyazinthen. Julia liebte diesen Platz. Oft entfloh sie ihrer kleinen Zweizimmerwohnung und suchte den nahe gelegenen Park auf. Meist hatte sie ein Buch dabei, setzte sich auf eine Bank und las stundenlang darin. Und nun saß da dieser grauhaarige Mann neben ihr und sprach sie darauf an.
Sie überlegte kurz, was sie antworten sollte.
„Ja, es ist wirklich interessant. Das ist die Biografie einer Frau, die aus ihrem Leben ausgebrochen ist und neu angefangen hat.“
Julia wandte sich wieder ihrer Lektüre zu.
„Das klingt spannend.“ Der Mann schien sichtlich interessiert. „Und was hat sie wofür, aufgegeben?“
Sollte das ein längeres Gespräch werden?
„Sie tauschte ihren ungeliebten Job und ihr ödes Leben in einer noch öderen Kleinstadt mit einem Mann, der sie betrog und kleinhielt, gegen ein spannenderes Leben ein. Ursprünglich war sie Sekretärin. Dann hat sie ihrHobby zum Beruf gemacht: Sie ist nun Besitzerin einer kleinen Konditorei.“
Während Julia davon berichtete, wanderte ihr Blick verträumt über den Park, über die Menschen, die dort saßen und spazierten und über den kleinen Flusslauf, der sich gemächlich durch das Grün der Wiese zog.
„Das erfordert bestimmt enormen Mut“, meinte der Mann, der ihren Blicken gefolgt war.
„Das glaube ich auch“, antwortete Julia.
„Schade, wenn man nicht das Leben führen kann, das man sich immer gewünscht hat.“ Der ältere Mann sah nachdenklich in die Ferne.
„Das ist es“, bestätigte Julia und war selbst überrascht, dass sie so offen war. Ihr Banknachbar nickte.
„Was würden Sie denn ändern?“, fragte der Mann direkt.
Julia zögerte kurz. „Ich weiß es nicht. Es geht mir ja gut“, antwortete sie. „Ich habe einen sicheren Job und bin zufrieden.“
„Sie tappen also in die ‚Zufriedenheitsfalle‘. Wie viele Menschen. Soll heißen: Es ist alles gut, ich habe einen sicheren Job und ich bekomme irgendwann einmal meine Rente.“
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Aber nichts ist gut. Wissen Sie, wenn man zufrieden ist, dann stagniert man. Man entwickelt sich nicht weiter. Wozu auch? Man ist ja schließlichzufrieden“. Das letzte Wort klang beinahe abfällig. „Aber der wahre Grund, weswegen Sie sich noch dort befinden, wo Sie sind, ist der, dass Sie Angst haben. Oder?“ Nun sah er wieder zu ihr hinüber.
Julia war erstaunt, wie direkt er mit ihr sprach. Sie kannten sich doch gar nicht – sie waren Fremde, die lediglich auf der gleichen Parkbank saßen. Aber das Gespräch mit dem Unbekannten begann ihr zu gefallen. Er forderte sie heraus.
„Es stimmt. Ich habe Angst“, gab sie ohne Umschweife zu.
„Und diese Angst bremst Sie aus.Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Garantie, dass das, was Sie zukünftig machen, von Erfolg gekrönt ist. Was würden Sie am liebsten machen?“
Kurzes Schweigen. Sie runzelte die Stirn.
„Ich würde ins Ausland gehen. Vielleicht würde ich eine Pension eröffnen. Aber was soll's? Das sind Träume – fernab der Realität. Ich habe weder das Geld noch die Möglichkeiten, mir diesen Wunsch zu erfüllen.“
„So habe ich auch mal gedacht. So wie Sie. Und dann habe ich eine wunderbare Geschichte gehört, die mein Denken komplett verändert hat. Sie heißt ‚Wie kommt die Gans ins Adlernest?‘ Möchten Sie sie hören?“
Der Mann sah sie fragend an.
„Sehr gerne!“ Jetzt war sie neugierig geworden. Julia klappte ihr Buch zu und wartete gespannt auf die Geschichte, die sie gleich hören würde. Ihr Banknachbar lehnte sich zurück und begann zu erzählen.
Die Geschichte
Überlege - was willst du?
Auf einem großen Bauernhof mitten in den Bergen lebten vor langer Zeit zahlreiche Gänse, einige Enten, ein paar Puten, viele Hühner und der dazugehörige Hahn. Tagein tagaus verbrachten sie ihre Zeit in einem großen Gehege, in der Scheune oder im Stall, der unmittelbar neben der Scheune lag. Die Bäuerin kam jeden Morgen mit einem großen Kübel und fütterte die Tiere, die sich alle auf die Körner stürzten. Das Leben hätte schön sein können, wenn es nicht so langweilig gewesen wäre. So dachte zumindest einer der Gänseriche. Sein Name war Jupp. Er saß in der Ecke des Geheges und blickte zum Himmel, während er sinnierte. Dort nämlich kreiste ein Adler, der hin und wieder einen Blick hinunter auf das Federvieh warf, ehe er mit einem großen, eleganten Bogen weiterflog und in der Ferne verschwand. Jupp begann nach und nach sein L