Einleitung: Europa und Amerika
AEuropäische Entdeckungsreisen und Kartographie
Im Jahr 1507 schuf der elsässische Kartograph Martin Waldseemüller seine als Holzschnitt ausgeführte Weltkarte. Dort wird zum ersten Mal der gerade von den Europäern wahrgenommene Kontinent als »America« benannt, wobei der Begriff auf der Karte nur als Kennzeichnung für Südamerika dient. Die großen Inseln in der Karibik sind ebenfalls verzeichnet, aber Nordamerika bleibt klein und schemenhaft an den oberen Rand der Karte gedrängt. Waldseemüller konnte nur wiedergeben, was an kartographierbarem Wissen 1507 verfügbar war, und über Nordamerika wusste man noch nicht viel. Es war im ersten Rausch der Erkundung und Erschließung der »Neuen Welt« randständig geblieben – und so sah es auf der Karte dann auch aus. Als die Europäer im 16. und 17. Jahrhundert Nordamerika »entdeckten« und Land in Besitz nahmen, galt ihnen dieser Teil des Kontinents als wenig interessant, gar als abweisend. Die Spanier waren vollauf mit der Karibik, Mittelamerika und dem Andenraum beschäftigt, die Engländer erschienen spät und zögerlich an der Küste, und für die Franzosen blieben, wie Voltaire später spotten sollte, im Norden »quelques arpents de neige« – einige Hektar Schnee.[1]
Weit schien Nordamerika (verstanden als das Territorium der heutigen StaatenUSA und Kanada) entfernt zu sein von den Reichtümern, die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts von den spanischen Konquistadoren im Süden der Neuen Welt erschlossen worden waren. Edelmetalle und Agrarprodukte (vor allem Tabak und Zucker) ließen die Besitzungen der spanischen Krone sowie die portugiesische Landnahme im später »Brasilien« genannten Raum zum Maßstab werden. Europäische Expansion und iberische Macht waren im 16. Jahrhundert – und noch bis ins 17. hinein – fast synonym; Macht und Weltgeltung Spaniens verdankten sich dem ausgebeuteten Reichtum Mittel- und Südamerikas. Walter Raleigh, der am Ende des 16. Jahrhunderts zu den ersten englischen Seefahrern mit Ambitionen in Nordamerika zählte, bemerkte nicht zu Unrecht, Spaniens Größe sei nicht dem Handel mit Orangen aus Sevilla zu verdanken, sondern dem »indianischen Gold«.
Abb. 1: Die Karte von Martin Waldseemüller, 1507
England und die anderen europäischen Mächte, die seefahrend auf Expansionskurs waren, suchten bald nach ihrem Anteil am spanischen Reichtum auf dem neuen Kontinent: Engländer, Franzosen und Niederländer griffen seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert durch Kaperfahrten unmittelbar auf den Güter- und Warenverkehr zwischen den spanischen Kolonien und dem Mutterland zu. Wenige Jahrzehnte später gelang es den drei Mächten, in der Karibik und im Nordosten Südamerikas eigenes Terrain zu erobern. Und für lange Zeit sollten diese Kolonien – etwa Jamaika und Barbados für England und Saint-Domingue für Frankreich – mit ihrer spezialisierten Exportlandwirtschaft den eigentlichen »Hauptgewinn« Englands und Frankreichs in Amerika darstellen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein, als es längst stabile Kolonien der beiden Mächte in Nordamerika gab, galten die karibischen Besitzungen nicht nur als Prachtstücke der Kolonialreiche, sondern auch als Modell: Nichts zeigt deutlicher die frühe Abhängigkeit der englischen Siedlerkolonien in Nordamerika von der Karibik als der Umstand, dass die mit Sklaven betriebene Plantagenwirtschaft in North und South Carolina sowie in Georgia den Vorbildern auf den Zuckerinseln (Barbados) nachgebaut worden war. Gleiches gilt für den Tabakanbau, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Kolonie Virginia ein ökonomisches Fundament verschaffte – er wäre ohne das Saatgut und das Knowhow der Pflanzer auf den Westindischen Inseln nicht möglich gewesen.
Der spanische Vorsprung bei der Erschließung des Kontinents rückte nicht nur die Karibik und Mittelamerika ins Zentrum der Anstrengungen der konkurrierenden Seefahrernationen. Er blieb dauerhaft folgenreich für die europäische Wahrnehmung: Noch das landläufige Wissen darum, dass Christoph Kolumbus Amerika »entdeckt« habe, transportiert