: Marcus Gräser
: Neue Fischer Weltgeschichte. Band 18 Nordamerika seit 1600
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104024189
: Neue Fischer Weltgeschichte
: 1
: CHF 55.00
:
: Geschichte
: German
: 576
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die ganze Geschichte Nordamerikas - von der gewalthaften Eroberung über die Sklaverei bis zu Staatenbildung und demokratischem Wandel, erzählt vom Nordamerika-Historiker Marcus Gräser. Die Geschichte Nordamerikas ist vielfältig, nicht nur weil es die Geschichte zweier Staaten ist, Kanadas und der USA. Es ist auch die Geschichte vieler Völker und Ethnien und der damit einhergehenden Spaltungen und Konflikte, bis hin zu grausamen Kriegen. Marcus Gräser erzählt vom Aufeinandertreffen der indigenen Bevölkerung und europäischen Siedlerinnen und Siedlern im 17. Jahrhundert, von den in die Sklaverei verschleppten Afrikanerinnen und Afrikanern und von der Zuwanderung aus fast allen Ecken der Welt seit dem 19. Jahrhundert. Seit dem 18. Jahrhundert begann die Herausbildung der beiden zwei Staaten, die wir heute kennen, und deren Demokratisierung. 1776 schlossen die Dreizehn Kolonien mit der Unabhängigkeitserklärung zu den Vereinigten Staaten zusammen. Die USA durchlebten den Bürgerkrieg, der die Abschaffung der Sklaverei erbrachte, und stiegen im 20. Jahrhundert zur Supermacht auf. Kanada dagegen löste sich erst spät aus dem Schatten der Kolonialmacht Großbritannien. Eines aber haben beide Staaten gemeinsam: Die Bildung einer Nation, in der Menschen aus unterschiedlichsten Weltregionen zusammenleben, ist eine Herausforderung - vor allem in den USA brachen die daraus entstandenen Widersprüche unter Präsident Donald Trump mit neuer Wucht hervor. Dieses Buch erklärt, wie Kanada und die USA die Staaten wurden, die sie heute sind, eine Empfehlung für alle Leser von Jill Lepore (»Diese Wahrheiten«). Die »Neue Fischer Weltgeschichte« wird herausgegeben von Jörg Fisch, Wilfried Nippel und Wolfgang Schwentker.

Marcus Gräser, geboren 1964 in Bad Vilbel, ist Universitätsprofessor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz und war zuvor stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington, DC. Er forscht zu Problemen der nordamerikanischen und zentraleuropäischen Geschichte und favorisiert den historischen Vergleich als Methode der Geschichtswissenschaft.

Einleitung: Europa und Amerika


AEuropäische Entdeckungsreisen und Kartographie


Im Jahr 1507 schuf der elsässische Kartograph Martin Waldseemüller seine als Holzschnitt ausgeführte Weltkarte. Dort wird zum ersten Mal der gerade von den Europäern wahrgenommene Kontinent als »America« benannt, wobei der Begriff auf der Karte nur als Kennzeichnung für Südamerika dient. Die großen Inseln in der Karibik sind ebenfalls verzeichnet, aber Nordamerika bleibt klein und schemenhaft an den oberen Rand der Karte gedrängt. Waldseemüller konnte nur wiedergeben, was an kartographierbarem Wissen 1507 verfügbar war, und über Nordamerika wusste man noch nicht viel. Es war im ersten Rausch der Erkundung und Erschließung der »Neuen Welt« randständig geblieben – und so sah es auf der Karte dann auch aus. Als die Europäer im 16. und 17. Jahrhundert Nordamerika »entdeckten« und Land in Besitz nahmen, galt ihnen dieser Teil des Kontinents als wenig interessant, gar als abweisend. Die Spanier waren vollauf mit der Karibik, Mittelamerika und dem Andenraum beschäftigt, die Engländer erschienen spät und zögerlich an der Küste, und für die Franzosen blieben, wie Voltaire später spotten sollte, im Norden »quelques arpents de neige« – einige Hektar Schnee.[1]

Weit schien Nordamerika (verstanden als das Territorium der heutigen StaatenUSA und Kanada) entfernt zu sein von den Reichtümern, die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts von den spanischen Konquistadoren im Süden der Neuen Welt erschlossen worden waren. Edelmetalle und Agrarprodukte (vor allem Tabak und Zucker) ließen die Besitzungen der spanischen Krone sowie die portugiesische Landnahme im später »Brasilien« genannten Raum zum Maßstab werden. Europäische Expansion und iberische Macht waren im 16. Jahrhundert – und noch bis ins 17. hinein – fast synonym; Macht und Weltgeltung Spaniens verdankten sich dem ausgebeuteten Reichtum Mittel- und Südamerikas. Walter Raleigh, der am Ende des 16. Jahrhunderts zu den ersten englischen Seefahrern mit Ambitionen in Nordamerika zählte, bemerkte nicht zu Unrecht, Spaniens Größe sei nicht dem Handel mit Orangen aus Sevilla zu verdanken, sondern dem »indianischen Gold«.

Abb. 1: Die Karte von Martin Waldseemüller, 1507

England und die anderen europäischen Mächte, die seefahrend auf Expansionskurs waren, suchten bald nach ihrem Anteil am spanischen Reichtum auf dem neuen Kontinent: Engländer, Franzosen und Niederländer griffen seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert durch Kaperfahrten unmittelbar auf den Güter- und Warenverkehr zwischen den spanischen Kolonien und dem Mutterland zu. Wenige Jahrzehnte später gelang es den drei Mächten, in der Karibik und im Nordosten Südamerikas eigenes Terrain zu erobern. Und für lange Zeit sollten diese Kolonien – etwa Jamaika und Barbados für England und Saint-Domingue für Frankreich – mit ihrer spezialisierten Exportlandwirtschaft den eigentlichen »Hauptgewinn« Englands und Frankreichs in Amerika darstellen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein, als es längst stabile Kolonien der beiden Mächte in Nordamerika gab, galten die karibischen Besitzungen nicht nur als Prachtstücke der Kolonialreiche, sondern auch als Modell: Nichts zeigt deutlicher die frühe Abhängigkeit der englischen Siedlerkolonien in Nordamerika von der Karibik als der Umstand, dass die mit Sklaven betriebene Plantagenwirtschaft in North und South Carolina sowie in Georgia den Vorbildern auf den Zuckerinseln (Barbados) nachgebaut worden war. Gleiches gilt für den Tabakanbau, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Kolonie Virginia ein ökonomisches Fundament verschaffte – er wäre ohne das Saatgut und das Knowhow der Pflanzer auf den Westindischen Inseln nicht möglich gewesen.

Der spanische Vorsprung bei der Erschließung des Kontinents rückte nicht nur die Karibik und Mittelamerika ins Zentrum der Anstrengungen der konkurrierenden Seefahrernationen. Er blieb dauerhaft folgenreich für die europäische Wahrnehmung: Noch das landläufige Wissen darum, dass Christoph Kolumbus Amerika »entdeckt« habe, transportiert