: Ann Patchett
: Diese kostbaren Tage Essays
: Berlin Verlag
: 9783827080585
: 1
: CHF 18.00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein unvergessliches Buch über Liebe, Verlust, die Wunder der Freundschaft. Ann Patchett blickt zurück auf die letzten zehn Jahre ihres Lebens, auf ihre Beziehungen zu den Personen und Persönlichkeiten in dieser Zeit. Es geht um ihre Familie (zum Beispiel ihre diversen Väter), um ihren Mann, ihre Freundinnen und Freunde und um ihre Hunde. Es geht um Liebe und Glück, um Mut und Trauer und immer wieder um das Schreiben. Ihre freundliche Weltoffenheit und ihre klugen emotionalen und intellektuellen Einsichten machen aus dieser Sammlung eine kleine Offenbarung.

Ann Patchett, 1963 in Los Angeles geboren, lebt als Schriftstellerin, Kritikerin und Buchhändlerin in Nashville, Tennessee. 

VORWORT: Essays sterben nicht


Ich war sechsundzwanzig und arbeitete an meinem ersten RomanThe Patron Saint of Liars (Der Schutzheilige der Lügner), als ich zum ersten Mal ernsthaft über meinen eigenen Tod nachdachte. Immer und überall hatte ich zu jener Zeit das gesamte Figurenkabinett bei mir, es begleitete mich auf Schritt und Tritt – die Heldinnen und Helden, die Nebenfiguren ebenso wie die Städte, in denen sie lebten, ihre Häuser und Autos, all die Straßen und all die Bäume und die Farbe des Lichts. Jeden Tag wurde ein wenig mehr von ihrer Geschichte zu Papier gebracht, doch alles, was noch kommen sollte, existierte nur in meinem Kopf. Denn so arbeite ich: indem ich mir Dinge merke.

Ich hatte keinerlei Gliederung oder Notizen, und deswegen verfolgte mich der Gedanke, ich könnte im falschen Augenblick die Straße überqueren wollen oder im Ozean ertrinken (dieses zweite Szenario erschien realistischer, da ich damals in Provincetown, Massachusetts lebte, wo ich nicht selten Krämpfe bekam, wenn ich im eisigen Wasser schwimmen ging). Falls ich starb, würde die gesamte Welt meines Romans mit mir untergehen – gewiss, für die Literatur kein nennenswerter Verlust, aber die Vorstellung, all diese Seelen in mir zu verlieren, war unerträglich. Für diese Menschen war ich verantwortlich. Ich hatte sie mir ausgedacht, und ich wollte, dass sie ihre Chance bekamen. Das Gespenst meines Todes begleitete mich, bis ich den Roman fertig geschrieben hatte, und als er fertig war, nahm der Tod Urlaub.

Kein Glück währt ewig. Nach den ersten paar Kapiteln meines zweiten Romans war der Tod wieder zur Stelle, um das Gespräch genau dort fortzusetzen, wo wir es unterbrochen hatten. Ich lebte mittlerweile in Montana, einem Bundesstaat, in dem einen der Tod auf vielerlei Art und Weise ereilen konnte, über die ich mir bis dato nie hatte Sorgen machen müssen: Ich könnte auf einem Wanderweg ausrutschen und einen Berghang hinunterstürzen, ein außer Kontrolle geratener Langholzlaster könnte mich überfahren, ich könnte von einem Puma gefressen werden oder von einem Bären. Jeder Gang vor die Haustür war eine Meditation über die Sterblichkeit. Sobald ich aber auf der letzten Seite des Romans anlangte, packte der Tod wortlos seine Sachen. Nie kam mir bei der Überarbeitung des Texts, während des Lektorats, der Fahnenkorrektur, der Lesereise der Gedanke, dass ich im festen Eis des mittlerweile zugefrorenen Flusses einbrechen und davongeschwemmt werden könnte.

Als der Tod sich auf leisen Sohlen zum dritten Mal einstellte, war ich es schon gewohnt. Ich schrieb gerade an meinem dritten Roman und hatte inzwischen genug Erfahrung, um das Muster zu erkennen.

Mein Leben als Autorin ist bis heute von dieser durch Unterbrechungen gekennzeichneten Beziehung geprägt, und so seltsam es auch scheinen mag, war und bin ich nicht die Einzige mit diesem Problem. Eine Freundin schickt mir, ehe sie eine Flugreise antritt, eine Beschreibung, wo in ihrem Haus sie einen USB-Stick mit den Dateien ihres noch unvollendeten Romans versteckt hat, eine andere Freundin fragt an, ob ich wohl das Buch für sie zu Ende schreiben könnte, falls sie sterben würde. »Ich habe ein Post-it an meinem Computer hinterlassen«, erklärt sie mir, »auf dem steht, dass du das Ende schreibst.«

Autoren, die zu Beginn der Pandemie bereits mit einem Projekt beschäftigt waren, kamen in der Folgezeit gut damit voran, während jene von uns, die mit ihrer Arbeit noch ganz am Anfang waren oder noch gar nicht damit begonnen hatten, regelrecht ausgebremst wurden; so jedenfalls das Ergebnis meiner kleinen, ganz unwissenschaftlichen Studie. Diesmal hatte der Tod mich überrumpelt; ich hatte Angst vor ihm, ehe mir überhaupt eine ganz ausgeformte Idee für einen Roman gekommen war. Was für einen Sinn hatte es, mit etwas anzufangen, wenn ich nicht mehr lang genug lebte, um es abzuschließen? Was nicht unbedingt hieß, dass ich dachte, ich würde am Coronavirus sterben, ebenso wie ich nie ernsthaft damit gerechnet hatte, im Meer zu ertrinken oder von einem Bären gefressen zu werden, aber völlig auszuschließen waren diese Szenarien nicht. Das Jahr 2020 schien nicht gerade ideal dafür, eine Familie zu gründen, oder ein Unternehmen, oder mit einem Roman anzufangen.

Ich schrieb natürlich weiter Essays. Ich schreibe ständig Essays – 800 Worte darüber, wie es ist, Inhaberin eines Buchladens zu sein für eine Londoner Tageszeitung, meine zehn Lieblingsbücher des Jahres für eine Zeitschrift in Australien, ein neues Vorwort für einen neu aufgelegten Klassiker, vielleicht einen kleinen Text über Hunde. Essays füllten mich zwar nie ganz aus, doch dank ihrer wusste ich, dass ich noch immer eine Autorin war, auch ohne gerade an einem Roman zu arbeiten.

So stieß ich auf mein Schlupfloch: Für Essays interessierte sich der Tod nicht.

Warum fiel mir das jetzt erst auf? Bei der Arbeit an meinem ersten Essayband,This is the Story of a Happy Marriage (Dies ist die Geschichte einer glücklichen Ehe), hatte der Tod nicht einmal an den Fenstern gerüttelt. Das Buch fühlte sich so absurd persönlich an, dass mich einzig und allein die Sorge plagte, wen ich damit kränken könnte; an die Gefahr dagegen, auf eine Schlange zu treten, dachte ich keinen Moment lang. Mir wurde klar, dass ich bei all den Essays, die ich in meinem Leben schon verfasst hatte, noch nie das zart schabende Geräusch einer Sense vernommen hatte, die in der Nähe gewetzt wurde. Hatte der Tod sich getrollt, weil nicht die Aussicht bestand, einen größeren Haufen von Romanfiguren ausradieren zu können? Vielleicht lag es auch daran, dass die Gegenstände meiner Essays real waren, verifiziert werden konnten. Falls ich mitten in einem Essay abtrat, ließe sich irgendjemand finden, der ihn, mithilfe von ein wenig Recherche, beenden könnte. Er oder sie würde den Text womöglich nicht ganz so schreiben, wie ich es getan hätte, doch die verfügbaren Tatsachen wären dieselben. Vielleicht lag es auch an den Tatsachen – die Vorstellungskraft kann getötet werden, Tatsachen aber sind viel schwerer aus der Welt zu schaffen. Es mag nicht den Anschein haben, ich weiß. Die Geschichte arbeitet unermüdlich daran, Tatsachen zu tilgen, dieses Land arbeitet unermüdlich daran, doch Tatsachen haben so eine Art, immer wieder aufzutauchen, und mit der Zeit strahlt ihre Wahrheit umso heller. Was womöglich eine Erklärung für das Desinteresse des Todes an Essays sein könnte; Essays sterben nicht. Ich beschloss, alles auf diese Karte zu setzen.

Ich fing an, längere Essays zu schreiben, und ich schrieb sie für mich – woher der plötzliche Drang, sich von Dingen zu trennen? Was bedeutete es zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben, kinderlos zu sein? Andere Essays ergaben sich aus Gesprächen, die ich mit Freundinnen führte, insbesondere der Text, den ich über meine drei Väter schrieb. Nach dem Tod ihres Vaters erzählte mir meine Freundin Katie, dass sie über ihn schreiben wolle. Ich selbst dachte seit fünfzehn Jahren darüber nach, über meine drei Väter zu schreiben, und hatte irgendwie nie den Mut dazu aufgebracht. Ich fragte sie, ob ich mich anschließen dürfe. Schreiben ist eine so einsame Arbeit, doch in diesem Fall war es eine Ermutigung für mich, dass wir zu zweit waren.

Der Gedanke, dass ich einen ganzen Band zusammenstellen müsste, verfestigte sich erst während der Arbeit an »Diese kostbaren Tage«, dem Titelessay. Dieser umfangreiche Essay war mir persönlich so wichtig, dass ich ihm eine solide Unterkunft errichten wollte: ein sehr langer Essay mit vielen kürzeren Essays als Stütze ringsherum. Also besann ich mich und vertiefte mich in andere Texte, die ich in den letzten paar Jahren geschrieben hatte. Die meisten verwarf ich, die stärksten aber nahm ich auseinander und schrieb sie um. Sich einen Text, der einige Jahre alt ist, noch einmal ansehen zu können, aus der Distanz die Schwachstellen auszumachen und dann die Möglichkeit zu haben, Mängel auszubügeln, ein letztes Mal zu polieren oder manchmal den Text auch ganz zu verwerfen und eine bessere Version zu schreiben, das ist schon wirklich grandios. Bei Romanen geht das eindeutig nicht. Durch diese Essays konnte ich mir zusehen, wie ich mich beim Schreiben mit denselben Themen auseinandersetzte wie in meinem Leben: was ich brauchte, wen ich liebte, was ich loslassen konnte und wie viel Kraft dieses Loslassen kosten würde. Wieder und wieder stellte ich mir die Frage, worauf es in diesem gefährdeten und kostbaren Leben am meisten ankommt. ...