2. Kapitel
Obwohl es nur einen knappen Kilometer entfernt war, fuhr Stella neuerdings mit dem Auto zu ihrer Großmutter. Helmgard Böttcher wohnte am Ortsrand von Kaltenbrode auf einem kleinen Gutshof. Das dazugehörige Land war verpachtet, die Ställe standen leer, doch ihre Großmutter hing an dem hundertjährigen Wohnhaus mit den Sprossenfenstern und vor allem an dem ausgedehnten Garten mit den Gewächshäusern.
Stella parkte auf dem Innenhof zwischen den u-förmig errichteten Gutsgebäuden, sah sich nach allen Seiten um und stieg aus. Es war bereits dunkel, doch das Haus wurde von zahlreichen Scheinwerfern angestrahlt. Seitdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie es vermieden, sich allein draußen aufzuhalten. Bisher war sie nur am helllichten Tag kurz zum Supermarkt gefahren, um Lebensmittel einzukaufen, oder zur Apotheke. Einen Besuch bei sich zu Hause erlaubte sie ausschließlich einer sehr engen Freundin, ihrem Vater und ihrem Bruder Carl. Alles andere war ihr noch zu viel.
Körperlich würde alles gut heilen, hatten ihr die Ärzte versichert. Was der kürzliche Angriff auf sie mit ihrer Psyche machte, stand auf einem anderen Blatt.
Stella klingelte, wartete einen Moment und wurde von Eduard Seiler, Helmgards langjährigem Lebensgefährten, eingelassen. Eddie war ein kleiner, wendiger Mann Anfang siebzig mit silbergrauen Haaren und einem Dreitagebart.
Stella war froh, dass er den »Vorfall« nicht erwähnte, sondern sie einfach begrüßte, als wäre dies ein Tag wie jeder andere. Er begleitete sie zu Helmgard ins Wohnzimmer.
Ihre Großmutter saß im Schein einer beige-grünen Stehlampe in ihrem Sessel und zog sich, als Eduard und sie näher kamen, die Kopfhörer von den Ohren, mit denen sie ihre geliebten Hörbücher hörte. Sie fühlte die alten Holzdielen unter ihren Füßen vibrieren, wenn sich jemand näherte, hatte sie ihrer Enkeltochter einmal erklärt. Ein weiterer Grund für Helmgard, in dem alten Bauernhaus wohnen zu bleiben.
»Hallo Stella. Wie schön, dass du dir die Zeit nimmst, mich zu besuchen!«, bemerkte sie und deutete auf das gegenüberliegende Sofa. »Setz dich doch.«
»Soll ich euch eine Flasche Wein aufmachen, Helmgard?«, schlug Eduard vor, nachdem Stella ihre Großmutter begrüßt hatte.
»Seit wann trinke ich abends noch Wein, Eduard?« Helmgard Böttcher sah mit ihrem starren Blick fragend in seine Richtung. Ihre scharfen Gesichtszüge und das modisch frisierte graue Haar ließen sie elegant und auch ein wenig unnahbar erscheinen.
»Ich habe eher an deine Enkelin gedacht«, entgegnete er. »Möchtest du vielleicht ein Glas Wein, Stella?«
»Nein, danke, Eddie«, antwortete sie. »Ich darf wegen der Medikamente, die ich noch nehme, keinen Alkohol trinken. Und ich bin heute auch mit dem Auto da.«
»Aber so ’n kleiner winziger Schluck ist doch Medizin und fällt schon nicht ins Gewicht!«
»Du kannst jetzt unbesorgt zu deinem Skatabend gehen, Eddie.« Helmgard hob vage