: Elisabeth Walter
: Der Kastanienbaum - Familiensystemische Erzählung aus der Praxis
: myMorawa von Dataform Media GmbH
: 9783991182115
: 1
: CHF 7.20
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: Lebenshilfe, Alltag
: German
: 188
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In diesem Buch sind Teile von Schicksalen einiger meiner Klientinnen und Klienten verpackt. Jede Begebenheit beruht auf einem wahren Hintergrund, die Namen und die 'Schauplätze' wurden geändert.

Elisabeth Walter, die Aufstellerin. Schon seit 16 Jahren ist sie in 'Sachen' Mensch unterwegs. Der Mensch liegt ihr am Herzen. Ihre Leitfrage: 'Was mach ma Gutes draus?' Der allerwichtigste Teil ihres Tuns ist die Beschäftigung mit der Familie, mit den Familiendynamiken, also Familienaufstellungen bzw. das Aufstellen von Systemen, egal ob Familien-, Körper-, Denk- oder Firmensysteme.

Erster Teil

Systemische Erzählung

Der Mensch ›hat‹ einen Charakter, aber er ›ist‹ eine Person und ›wird‹ eine Persönlichkeit. Indem sich die Person, die einer ›ist‹, mit dem Charakter, den einer ›hat‹, auseinandersetzt, indem sie zu ihm Stellung nimmt, gestaltet sie ihn und sich immer wieder um und ›wird‹ zur Persönlichkeit.

Viktor Frankl

Es ist Winter, ein strenger Winter. Alles scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Kein Vogelgezwitscher ist zu hören, kein Hundegebell, auch nicht das Summen der Bienen oder das Zirpen der Grillen. Stille. Nichts ist zu hören. Oder doch? Hin und wieder ist ein Knacksen der Äste wahrnehmbar, die Last des Schnees drückt schwer auf ihnen. Ah, doch, ein dumpfer Aufprall, wenn dem Ast der Schnee zu viel wird und die Schneemasse zu Boden fällt. Und dennoch fühlt sich die weiße Pracht magisch an. Die Sicht ist klar, und weit übers Land ist eine Schneedecke zu sehen.

Ratsch, ratsch. Herr Hofstätter schaufelt den Weg frei. „Hört denn das nie auf? Jeden Tag dasselbe. Wann wird es endlich wieder Frühling?“, grummelt er vor sich hin. Schaufelt und schaufelt und schaufelt, dabei hat er seine Aufmerksamkeit zum einen bei der Stille im Außen und zum anderen hängt er seinen Gedanken nach. „Eine gute Freundin hat einmal gesagt: ‚Ich höre der Stille zu und sie ist so laut.‘ Ja, das kann ich bestätigen, eigentlich ist es doch laut hier. Ein anderes Lautsein. Die paar wenigen Geräusche haben die Qualität einer Tiefe. Einer Tiefe, die weit in mein Inneres geht. Schön, es fühlt sich so gut an, ich liebe es!“

Herr Hofstätter hat den Gasthof von seinem Vater übernommen. Der Gasthof ist schon einige Generationen im Besitz der Hofstätters und der Kastanienbaum war schon immer da. Die Worte seines Großvaters hat Herr Hofstätter noch im Ohr: „Ja, ja, der Baum, im Sommer bringt er Schatten, im Winter Licht, das ganze Jahr steht er stark und kraftvoll in unserem Garten, als ob er so für unser Wohl sorgen möchtʼ.“ Er hält inne. Lange blickt er zum Baum hoch, sieht die Lichtstrahlen durch die verzweigten Äste scheinen: „Wie viele Geschichten könntest du uns erzählen …?“

„Du, Opa Hofstätter … Magst du mir wieder eine Geschichte erzählen? Eine von denen, du weißt schon welche? Ich mag sie so gern.“ Herr Hofstätter wird aus seinen Gedanken gerissen. „Ah, du bist es, Maria, hab dich gar nicht gehört. Du bist schon auf? Es sind doch Ferien.“

Maria ist neun Jahre alt und die Tochter des Nachbarn. In jeder freien Minute vergnügt sie sich bei den Hofstätters. „Hier ist immer was los“, sagte sie einmal zu ihm.

„Ja, welche Geschichte meinst du denn, ich habe dir schon so viele Geschichten erzählt“, fragt Herr Hofstätter.

„Na, du weißt schon, die mit den Hendln.“ In Marias Augen ist schon der Schalk zu sehen und sie beginnt freudig zu zappeln.

„Ah, die! Weißt du was, hol dir eine Schneeschaufel, wir befreien gemeinsam den Weg vom Schnee. Währenddessen erzähl ich dir die Geschichte, und wenn wir fertig sind, holen wir uns drinnen eine gute Stärkung.“ Den letzten Teil des Satzes hat Maria schon gar nicht mehr gehört, sie ist schon bei dem Wort „Schneeschaufel“ losgestartet, um die Schaufel zu holen, und schon ist sie wieder zurück. „Ihr Vater würde sich diese Motivation wahrscheinlich wünschen, wenn es um Hausaufgaben oder Zimmeraufräumen geht“, denkt sich Herr Hofstätter lächelnd, berührt von der kindlichen Freude des Mädchens.

„Bin schon da! Kannst schon loslegen!“ Zappelig und voll glücklicher Vorfreudebeginnt sie den Schnee vom Weg wegzuschaufeln. „Ich habe dich soooo lieb! Ich wünschte, du wärst wirklich mein Großvater.“ Maria umarmt „ihren“ Großvater. Ganz fest drückt sie sich an ihn.

Herr Hofstätter beginnt zu sinnieren „Ja, lang, lang ist’s her. Jedes Mal, wenn ich an dieses Ereignis denke, kommt mir auch Wilhelm Buschs Geschichte von Max und Moritz in den Sinn. Wo es im ersten und zweiten Streich den gehegten und gepflegten Hühnern der Witwe Bolte an den Kragen ging. Ein Satz im Buch lautet: ‚Durch den Schornstein, mit Vergnügen, sehen sie die Hühner liegen. Die schon ohne Kopf und Gurgeln lieblich in der Pfanne schmurgeln.‘ So im Nachhinein betrachtet eigentlich eine grausige Geschichte, die einige meiner moralischen Werte betrübt hat, und gleichzeitig hat sie mich auch wieder zum Schmunzeln gebracht. Und doch ist für mich in dieser Geschichte so viel Wahrheit drin. Wo gutes Tun seinen Anfang machen kann und Verstehen eine andere Sensibilität erhalten kann. Ich habe sie geliebt und konnte das ganze Buch auswendig aufsagen, weil es sich auch so schön reimt.“

„Hey, Großvater! Die Geschichteeee!!!!!“

„Warum denke ich immer an Max und Moritz? Weil wir, meine Geschwister und ich, ein ähnliches ‚Abenteuer‘ erlebt haben. In unserem Gasthaus, ebendiesem hier, war ein monatlicher ‚Grillhendl-Abend‘ Tradition. Wir sahen die vielen guten Hendl im Ofen schmoren. Einer von uns kam auf die Idee: ‚Wir sind Räuber und holen uns die Beute.‘ Eng in eine Nische gekauert, in voller Konzentration und Erregung warteten wir auf die Gelegenheit – unsere Gelegenheit.

Aus dem Gastraum die fröhlichen Stimmen, die Musik, und aus der Küche gedämpfte Geräusche, die uns den gewohnten Betriebsablauf signalisierten. Der Griller stand aus platztechnischen Gründen auf dem Gang. Also ideal für uns. Immer wieder ein Kellner, der die neuen Bestellungen in die Küche weitergab. Der typische Duft von Gegrilltem und der erzeugten Wärme machten für mich das Erleben noch durchdringender. Die große Herausforderung war jedoch der Koch. Wann würde er unsere ‚Beute‘ allein lassen? Wann war die richtige Gelegenheit? Die Anspannung stieg und stieg, alles in meinem Körper bebte: ‚Jeeeetzt!‘, und mit einem kräftigen Schubs wurde ich aus dem Versteck befördert. Mein Herz klopfte, alle meine Sinne waren auf die Hühner konzentriert, die unbeirrt und ruhig ihre Runden im Ofen drehen. Aufregung am ganzen Körper. Ich rannte los, hin zu den Hendln, schnappte mir ein Stück Haut. Heiß, ich verbrannte mir die Finger. Nur, es war es wert. Hmm … köstlich, es hat sich gelohnt. Die anderen waren auch emsig auf Beutejagd. Während ich mich für den zweiten Angriff bereit machte, spürte ich hinter mir Bedrohung. Es war ein Gefühl, ganz leicht und kaum wahrnehmbar, das sich von hinten ausbreitete. Ich drehte mich um. Und sah es: schwarz, groß, bedrohlich. Waaaam, alles lief in Zeitlupe ab, die Geräusche verstummten, dass überdimensional große Gesicht meines Vaters tauchte über mir auf. Ein Knall, der mich alles, was bisher war, vergessen ließ, ich sah nur noch weißes Licht, und plötzlich war alles laut und sehr hell, sehr grell. Ich konnte die Worte gar nicht als Worte einordnen, es war nur laut. Die Hand meines Vaters hatte kurz und heftig in meinem Gesicht Platz genommen. Ich spüre keinen Schmerz, nur ein unsagbares Unverständnis. Was war passiert? Ohne dass ich mich hätte orientieren können, ging eine Schimpfkanonade los. ‚Warum ich?‘, fragte ich mich. ‚Die anderen haben doch auch …‘ Nur, die anderen waren nicht mehr zu sehen. Sie waren geflohen.

Damals war alles noch Spiel, ich kam gar nicht auf die Idee, dass es falsch sein könnte. Ich war erst ungefähr fünf Jahre alt. Erst als ich den Gasthof übernommen habe und manchmal unsere Hendl im Griller schmoren sehe, erinnere ich mich an das Bild, wie das Hühnervieh nackt, ohne Haut, die Runden dreht. Denn aus heutiger Sicht möchte ich mir nicht vorstellen, dass Gäste auf die Grillhendln warten und ich nur welche ohne knusprige Haut anbieten kann. Ja, so war das, liebe Maria. Die Erfahrung ist mir geblieben und den emotionalen Schmerz spüre ich immer noch, weil ich es nicht verstanden habe und weil mein Vater nicht mit mir geredet hat.

So, und jetzt ab in die warme Gaststube. Wir holen uns unsere wohlverdiente Stärkung.“

Lachend formt Herr Hofstätter einen Schneeball und wirft ihn auf Maria. Eine Schneeballschlacht! Maria ist begeistert. Schnell fliegen einige Bälle hin und her. Maria lacht und jubelt, während sie neue Schneebälle rollt, damit in seine Richtung zielt und wirft.

Mit lautem Toben stürmen sie in Haus. Drinnen ist alles ruhig. Die Ruhe breitet sich schnell auf die beiden aus. Frau Hofstätter sitzt am Tisch und liest ihre Zeitung. „Puh, ihr bringt ja die ganze kalte Luft mit rein.“ Sie faltet die Zeitung zu und geht in die Küche, „ihre“ Küche. Schon seit jeher ist es ihr Reich. Auch...