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Schatten aus einer anderen Zeit
Ich sehe nichts. Gar nichts! Sosehr ich mich auch konzentriere, bleiben mir die Regungen, die Geschichte und die Zukunft von Helenas Herz verborgen.
Es ist Freitagvormittag. Ich habe unser Wohnzimmer aufgeräumt, eine Bienenwachskerze entzündet und mich eingestimmt. Nun duftet der Raum, und Helena sitzt vor mir auf der Couch, die Augen hoffnungsvoll geschlossen, den Kopf hingebungsvoll in den Nacken gelegt. Ich fühle ihre Erwartung. Aber je mehr ich sie spüre, desto weniger kann ich mich konzentrieren.
Angst steigt in mir auf. Und jetzt?! Was ist, wenn ich nichts anzubieten habe? Panik will sich in mir breitmachen. Ich versuche sie wegzudrücken und fokussiere mich wieder auf Helenas Herz. Aber ich fühle rein gar nichts.
Vielleicht geht es ja gar nicht um ihr Herz. Ich atme tief durch und versuche, sie im Ganzen zu spüren, zu ihrem Körper, ihrer Seele und ihrem Geist eine Verbindung aufzubauen. Doch alles, was ich sehe, ist, wie ihr Blut rhythmisch durch eine Ader am Hals fließt.
In epischer Breite hat mir Helena am Anfang unserer Sitzung erklärt, dass sie nie fühlen kann, was gut für sie ist. Dass ihr Herz schweigt, liege an ihrer Mutter, das habe sie schon mit einem Psychologen besprochen. Aber auch die Therapie habe nichts genutzt, immer wieder treffe sie die falschen Entscheidungen, weil ihr die Sprache des eigenen Herzens verborgen bleibe.
»Das Schamanische hat ja mehr Möglichkeiten«, schloss sie ihre Rede. »Ich hoffe, mit deiner Hilfe endlich den Durchbruch zu schaffen.«
Der Erwartungsdruck setzt mir zu. Noch schlimmer ist, dass ich mich selbst in diese Lage gebracht habe. Als Schamanin glänzen wollte. Dass ich nicht lache. Wie soll das gehen, wenn ich nichts sehe oder spüre? Eine Schamanin, die nichts wahrnehmen kann, das ist eine Katastrophe! Und peinlich noch dazu.
Als ich kurz davor bin, einfach abzubrechen, höre ich auf einmal wieder dieses Summen. Wie in meinem Traum und vor ein paar Tagen am Zaun des Kindergartens. Sind das Bienen? Ich glaube ja. Sie schwärmen. Ich bemerke, wie sich innerlich etwas in mir öffnet, mein Bewusstsein nach oben zieht und sich ausdehnt. Alle Begrenzungen einfach wegfallen. Und dann entsteht, wie aus dem Nichts, ein Impuls. Ich möchte Helena die Hand aufs Herz legen, obwohl ich so etwas noch nie zuvor gemacht habe und nicht weiß, worauf das hinauslaufen soll. Dennoch frage ich sie, ob es ihr recht wäre.
»Ja natürlich, mach einfach«, antwortet sie.
Also lege ich ihr meine Hand auf den Brustkorb und spüre nach kurzer Zeit, wie sich Energie und Wärme darunter aufbauen. Meine Hand wird heiß und fängt an zu prickeln. Wie Nadelstiche tanzt es unter meiner Handfläche. Intuitiv leite ich diese Kraft zurück und gebe sie wieder an Helena ab. Ich spüre, dass ein regelrechter Kraftstrom entsteht, der immer stärker zu fließen beginnt. Dann höre ich, wie sich Helenas Atmung verändert. Sie atmet schneller und intensiver. Auf einmal spannen sich ihre Gesichtszüge an. Ich sehe, dass sie Schmerzen hat. Was passiert da gerade? Ist das richtig? Kann ich ihr wehtun?
»Ist alles in Ordnung?«, will ich wissen.
»Es ist so eng in meiner Brust«, keucht sie. »Ich fühle mich wie eingesperrt und bekomme kaum noch Luft.«
Das hört sich nicht gut an. Was soll ich tun? Die Hand wegnehmen? Aber die ist wie festgeklebt. Sosehr ich mich bemühe, sie rührt sich nicht vom Fleck. Was mache ich hier?!
Ich schließe die Augen und fokussiere mich. Als ich ruhiger werde, kommt die Erinnerung zurück. Ich kenne dieses Gefühl von der Verbindung zum heiligen Berg. Es fühlt sich genauso an wie damals. Und so weiß ich, es gibt nur eine Lösung. Ich sage: »Lass los. Versuche, nicht festzuhalten, mach auf und lass es fließen. Alles darf raus, alles darf gehen.«
Ich fühle Helenas Ringen, doch dann spüre ich, dass sie tatsächlich loslässt. Ich bemerke, wie sich die Energien entfalten und in sie einfließen können, wie sich die Begrenzungen um ihr Herz lösen. Wie ein Stromschlag fährt es durch sie hindurch – und Helena stöhnt auf. Dann sackt sie nach vorn und bricht in Tränen aus. Sie laufen in Strömen über ihre Wangen und benetzen ihr Gesicht.
Etwas erschrocken setze ich mich neben sie und halte sie fest, bis sie sich beruhigt hat. Als ihre Atmung wieder regelmäßig geht, schlägt sie die Augen auf, lächelt und blickt mich mit klarem Blick an. Der Ausdruck darin ist vollkommen verändert. Gelöst, geklärt und von innen heraus strahlend.