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Vetur ist auf dem Weg zur Arbeit, als sie in einem Café des Viertels plötzlich einen dunkelhaarigen Mann sieht, und seine verkrampften Schultern haben etwas an sich, was genügt, um alles wieder loszutreten. Sie schafft es gerade noch um die nächste Ecke, außer Sichtweite des Cafés, dann werden ihre Beine zu Weißbrot und ihre Arme kraftlos, alles erscheint ihr überdeutlich, die Farben grell, die Details riesengroß. Zoé piept:Herzschlag 181 pro Minute. Vetur hat dasselbe erdrückende Gefühl wie immer: Er beobachtet sie, er weiß, wo sie arbeitet, er ist wieder am Start, sie muss sich verstecken. Jemand kommt auf sie zu und fragt, ob alles in Ordnung sei, aber die Stimme dringt erst wesentlich später zu ihr durch, oder wahrscheinlich erfasst ihr Gehirn die Bedeutung der Worte erst wesentlich später, und sie sagt Ja, es ist alles in Ordnung, sie habe ihre Periode, sie fordert Zoé auf, nicht anzuspringen, auf gar keinen Fall möchte sie, dass die Sirenen losheulen wie beim letzten Mal, sie atmet aus, holt tief Luft, atmet aus: Er kommt hier nicht rein. Er kommt nicht in dieses Viertel. Das kann er nicht gewesen sein. Wenn sie genauer darüber nachdenkt, sah er gar nicht aus wie Daníel, dieser Mann hatte kurze Haare und trug eine schicke Jacke, so wie jemand, der in dieses Viertel gehört, der Zugang zu diesem Viertel hat.
Sie hat sich zusammengekrümmt, die Hände auf den Knien. Langsam richtet sie sich wieder auf und taumelt weiter Richtung Schule, so schnell sie kann. Sie geht direkt in ihren Klassenraum und versucht sich zu beruhigen. Als der erste Schüler den Raum betritt, zittert sie nicht mehr. Am Nachmittag hat sie den Vorfall fast vergessen.
Nach Unterrichtsende kommt ein Repräsentant des Isländischen Psychologenverbandes vorbei und erläutert dem Lehrerkollegium, wie die Kinder vorbereitet werden können. Erfahrungsgemäß sei es am besten, den Test ein wenig herunterzuspielen, sagt er, den Kindern zu vermitteln, dass das keine große Sache sei. Sonst neigten sie dazu, den Teufel an die Wand zu malen und sich viel zu viele Gedanken zu machen.
»Wie sollen wir ihnen das denn präsentieren? Als nette Überraschung?«, fragt Húnbogi und öffnet die Handflächen, was, denkt Vetur, einem verzweifelten Armeausbreiten so nahe wie möglich kommt, ohne ein verzweifeltes Armeausbreiten zu sein.
Der Repräsentant legt den Kopf schräg und überlegt.
»Nein«, antwortet er bedächtig. »Nicht als nette Überraschung. Aber je näher die Wahl kommt, desto mehr Fälle von Kindern mit Schlafproblemen aufgrund von Versagensängsten landen bei uns auf dem Tisch. Vielleicht bilden sich die Erwachsenen in der Familie gerade eine Meinung über die Markierungspflicht und registrieren nicht, dass ihre Kinder wie Schwämme neben ihnen sitzen und die Anspannung und Unsicherheit in sich aufsaugen, ohne über das notwendige Hintergrundwissen zu verfügen. Deshalb ist es uns wichtig, bei Personen unter achtzehn Jahren von einemEinfühlungsgutachten zu sprechen. Nicht von einem Empathietest. Die Wortwahl macht einen Unterschied. Die Kinder sollen nicht das Gefühl bekommen, das sei etwas, bei dem sie durchfallen können. Wir markieren ja niemanden.«
Der Repräsentant, Ólafur Tandri, ist vermutlich etwas älter als Vetur, zwischen dreißig und vierzig. Er ist oft für den Isländischen PsychologenverbandSÁL, Sálfræðifélag Íslands, in den Nachrichten. Die Direktorin hatte ausdrücklich nach ihm verlangt. Vetur versteht, warum er auf seinem Gebiet so erfolgreich ist. Er hat etwas Bescheidenes, etwas Klares an sich. Wäre er ein Haus, wäre es auf einem soliden Fundament gebaut. Nicht auf Sand wie alle anderen.
»Wir hoffe