Kapitel 1Der Zauber des Rechts
Was Recht ist und woher es kommt
Recht ist wie Zauberei. Mit Worten erschaffen wir aus dem Nichts Rechte und Pflichten. Eigentum und Ehre. Ehen, Unternehmen, ganze Staaten. Selbst Frieden und Regeln für den Krieg.
All diese Dinge sind physisch nicht greifbar. Menschen kann man sehen – eine Ehe, die sie verbindet, nicht. Den Boden unter den Füßen kann man spüren – nicht aber das Eigentum, das jemand an ihm geltend macht. Felder, Wiesen, Wälder kann man riechen – aber nicht den Staat, der sie zu seinem Territorium erklärt.
Und doch ist all das bedeutungsvoll, der Zauber wirkt. Entscheidend für seine Wirkung ist nicht, dass er in Gesetzen oder Verträgen geschrieben steht, sondern dass wir an ihn glauben, ihn verinnerlichen. Dieser Glaube macht die Dinge, die wir regeln, echt. Auf seiner Grundlage üben wir unsere Rechte aus und verlangen von anderen, ihre Pflichten zu erfüllen.
Damit sich aber der Zauber des Rechts voll entfalten kann, bedarf der Glaube auch der Durchsetzung. Denn anders als Naturgesetze sind menschliche verletzlich. Sie beschreiben nicht, was ist, sondern, wie es sein soll. Niemand kann die Schwerkraft ignorieren, wohl aber einen Vertrag. Deshalb führt seine Verletzung zu Schadensersatz, ein Knochenbruch zu Schmerzensgeld, Mord zu lebenslanger Haft. Die Folgen einer Rechtsverletzung gehören zum Recht wie der Fall zum Wurf. Esgilt nicht nur, Recht wird auch gesprochen und – zur Not – vollstreckt.
Die Wurzeln des Rechts
Dass wir mit dem Recht eine Welt jenseits des Greifbaren erschaffen haben, in der sich Eheleute, Aktiengesellschaften und Staatenbünde tummeln, hängt eng mit der menschlichen Vorstellungskraft zusammen. Doch Vorstufen des Rechts herrschen auch in der Natur. Tiere setzen und befolgen Regeln, ahnden Verstöße mit Drohung und Gewalt. Wolfsrudel etwa markieren mit Harn, Kot und durch Heulen Jagdreviere, die sich über ein paar Dutzend bis zu mehreren Tausend Quadratkilometern erstrecken können. Sie verteidigen ihr Territorium gegen andere Wölfe, oft bis auf den Tod. Auch viele andere Tiere – neben weiteren Raubtierarten zum Beispiel Fische, Vögel, sogar Insekten – besitzen und verteidigen Jagd-, Balz- oder Brutreviere. Beute wird ebenfalls verteidigt. Bis zu60 Hyänen stehen zusammen, wenn Löwen sich ihnen nähern.
Dem Revier im Tierreich entspricht beim Menschen die (Staats-)Grenze, der Beute das Eigentum. Der Unterschied zwischen tierischen Regeln und menschlichem Recht liegt darin, dass wir es bewusst als Instrument einsetzen. Keine andere Spezies hat sich die Natur so radikal untertan gemacht wie wir. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) unterstützt das zum Beispiel durch Regeln dafür, wie Eigentum an beweglichen Sachen erworben wird und verloren geht, nämlich durch Übertragung, Ersitzung, Verbindung, Vermischung, Verarbeitung, Aneignung oder Fund. DasBGB regelt auch, was Eigentum überhaupt bedeutet, wie wir es verteidigen dürfen oder welche Rechte daran wir anderen einräumen können, zum Beispiel in Form von Miete oder einer Hypothek. Und dass selbst lebendige Tiere eigentumsfähig sind. Auf diese Idee ist sonst kein Lebewesen gekommen.
Auch jenseits von Revier und Beute leben Tiere nach festen Regeln.[1] Und zwar nicht nur nach deskriptiven, die nur ein vorhersagbares Verhalten beschreibe