: Monika Maron
: Pawels Briefe
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455012828
: 1
: CHF 9.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Geschichte einer deutschen Familie Anhand eines Kartons mit alten Briefen, Fotos und Erinnerungsstücken zeichnet Monika Maron ein beeindruckendes Porträt ihrer Familiengeschichte. Ihr Großvater Pawel, der als konvertierter Jude Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin kam und 1939 zurück nach Polen vertrieben wurde, musste dort 1942 im Ghetto leben und wurde kurz darauf entweder in der Nähe von Belchatow erschossen oder im Vernichtungslager Kulmhof umgebracht. Monika Maron nimmt seine Briefe und die Briefe seiner Kinder zum Ausgangspunkt zu einer Reise in die Vergangenheit, die gleichzeitig berührend schön und abgrundtief grausam ist.  

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentliche zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Erzählung Bonnie Propeller (2020) und der Essayband Was ist eigentlich los? (2021).

Am30. November1930 meldete das Neuköllner Tageblatt: »Gestern kam es an drei verschiedenen Stellen Neuköllns zu Plünderungen von Geschäften durch Erwerbslose. Gestohlen wurden9 Brote und14 Würste.«

Überfälle auf Kartoffelwagen, Plünderungen von Bäckereien und Lebensmittelgeschäften, Krawalle im Arbeitsamt, dem »Hungerpalast« in der Sonnenallee, gehörten zum Neuköllner Alltag. In seinem Jahresbericht für1931 befindet der Schularzt11 % der Schulentlassenen für körperlich nicht berufsfähig. Der Neuköllner Rotfrontkämpferbund war mit3000 Mitgliedern die stärkste Ortsgruppe in Deutschland.1933 waren33 % der Neuköllner Erwerbstätigen arbeitslos; der Reichsdurchschnitt betrug25,%.

Als Hella vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, führten ihre Brüder sie in die Arbeiterbewegung ein und nahmen sie mit in den »Mercedes-Palast« in der Hermannstraße, wo nach dem Kinoprogramm oft politische Veranstaltungen stattfanden. Im »Mercedes-Palast« hat Hella zum ersten Mal Ernst Busch gehört, begleitet von Hanns Eisler, und Erich Weinen rezitierte: »Vom Alexanderplatz kommt Gas heran …« Hella erinnert sich an Ernst Buschs Stimme als die eindringlichste, die sie je in ihrem Leben gehört hat. Seine Lieder, sagt sie, hätten ihr politisches Denken nachhaltig beeinflusst, das »Lied vom bescheidenen Radieschen, außen rot und innen weiß« zum Beispiel, das auf die Sozialdemokratie zielte und das auf ihre Politik heute noch genau so passt wie damals, sagt Hella. Immer, wenn sie irgendwelche Sympathien für die Sozialdemokraten empfinde, fiele ihr das Lied vom bescheidenen Radieschen ein, und alle Sympathie sei wieder dahin.

Die Geschichte von Ernst Busch und den Sozialdemokraten hat Hella mir nicht erzählt, sondern aufgeschrieben, und als ich sie las, war sie nicht dabei, wodurch uns der Streit erspart blieb. Eigentlich haben wir uns schon vor fünfzehn Jahren versprochen, über Politik nicht mehr zu streiten, was, wie Hella behauptet, dazu geführt hat, dass ich alles sagen darf und sie nichts. Ich hätte sie aber anrufen müssen, um ihr zu widersprechen, und allein die Sekunde, die ich brauche, um nach dem Telefon zu greifen, enthält genügend Zeit, alle möglichen Sätze von Hella und alle möglichen Sätze von mir mit einem gedanklichen Zirkelschlag zu umkreisen und zu wissen, dass nichts gesagt werden kann, was nicht schon gesagt wurde. Hella glaubt an den Klassenkampf, und ich glaube an den Klassenkampf nicht. Also nehme ich es einfach hin, dass Hella die Sozialdemokraten für bescheidene Radieschen hält, obwohl sie wenigstens einem von ihnen viel verdankt: dem Dr. Kurt Löwenstein, der von192133 Stadtrat für das Neuköllner Volksbildungswesen war.

Neukölln muss ein besonderer Ort in Berlin gewesen sein; in Neukölln gab es nicht nur die meisten Rotfrontkämpfer und Arbeitslosen, sondern auch mehr Kirchenaustritte, Mandolinen- und Harmonikaorchester, mehr Freidenker und Arbeitersportvereine als anderswo.

Auch die Neuköllner Mädchen galten als besonders, sagt Hella, besonders intelligent oder interessant, ich weiß nicht, eben irgendwie besonders.

Und der Neuköllner Magistrat