Am30. November1930 meldete das Neuköllner Tageblatt: »Gestern kam es an drei verschiedenen Stellen Neuköllns zu Plünderungen von Geschäften durch Erwerbslose. Gestohlen wurden9 Brote und14 Würste.«
Überfälle auf Kartoffelwagen, Plünderungen von Bäckereien und Lebensmittelgeschäften, Krawalle im Arbeitsamt, dem »Hungerpalast« in der Sonnenallee, gehörten zum Neuköllner Alltag. In seinem Jahresbericht für1931 befindet der Schularzt11 % der Schulentlassenen für körperlich nicht berufsfähig. Der Neuköllner Rotfrontkämpferbund war mit3000 Mitgliedern die stärkste Ortsgruppe in Deutschland.1933 waren33 % der Neuköllner Erwerbstätigen arbeitslos; der Reichsdurchschnitt betrug25,9 %.
Als Hella vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, führten ihre Brüder sie in die Arbeiterbewegung ein und nahmen sie mit in den »Mercedes-Palast« in der Hermannstraße, wo nach dem Kinoprogramm oft politische Veranstaltungen stattfanden. Im »Mercedes-Palast« hat Hella zum ersten Mal Ernst Busch gehört, begleitet von Hanns Eisler, und Erich Weinen rezitierte: »Vom Alexanderplatz kommt Gas heran …« Hella erinnert sich an Ernst Buschs Stimme als die eindringlichste, die sie je in ihrem Leben gehört hat. Seine Lieder, sagt sie, hätten ihr politisches Denken nachhaltig beeinflusst, das »Lied vom bescheidenen Radieschen, außen rot und innen weiß« zum Beispiel, das auf die Sozialdemokratie zielte und das auf ihre Politik heute noch genau so passt wie damals, sagt Hella. Immer, wenn sie irgendwelche Sympathien für die Sozialdemokraten empfinde, fiele ihr das Lied vom bescheidenen Radieschen ein, und alle Sympathie sei wieder dahin.
Die Geschichte von Ernst Busch und den Sozialdemokraten hat Hella mir nicht erzählt, sondern aufgeschrieben, und als ich sie las, war sie nicht dabei, wodurch uns der Streit erspart blieb. Eigentlich haben wir uns schon vor fünfzehn Jahren versprochen, über Politik nicht mehr zu streiten, was, wie Hella behauptet, dazu geführt hat, dass ich alles sagen darf und sie nichts. Ich hätte sie aber anrufen müssen, um ihr zu widersprechen, und allein die Sekunde, die ich brauche, um nach dem Telefon zu greifen, enthält genügend Zeit, alle möglichen Sätze von Hella und alle möglichen Sätze von mir mit einem gedanklichen Zirkelschlag zu umkreisen und zu wissen, dass nichts gesagt werden kann, was nicht schon gesagt wurde. Hella glaubt an den Klassenkampf, und ich glaube an den Klassenkampf nicht. Also nehme ich es einfach hin, dass Hella die Sozialdemokraten für bescheidene Radieschen hält, obwohl sie wenigstens einem von ihnen viel verdankt: dem Dr. Kurt Löwenstein, der von1921–33 Stadtrat für das Neuköllner Volksbildungswesen war.
Neukölln muss ein besonderer Ort in Berlin gewesen sein; in Neukölln gab es nicht nur die meisten Rotfrontkämpfer und Arbeitslosen, sondern auch mehr Kirchenaustritte, Mandolinen- und Harmonikaorchester, mehr Freidenker und Arbeitersportvereine als anderswo.
Auch die Neuköllner Mädchen galten als besonders, sagt Hella, besonders intelligent oder interessant, ich weiß nicht, eben irgendwie besonders.
Und der Neuköllner Magistrat