Das Erfolgskonzept
Beim Wandel zu einer datengetriebenen Organisation geht es im Kern gar nicht so sehr um Daten und Technologie, sondern um Entscheidungen und Unternehmenskultur.
Wie jeden Wochentag eilten am Morgen des 12. Januar 2007 Tausende von Pendlern durch die L‘Enfant Plaza Station in Washington, D.C. Ihre Gedanken kreisten vermutlich um Arbeit, Familie und das bevorstehende Wochenende, während sie sich beeilten, zu ihren jeweiligen Zielen zu kommen. Mitten im Trubel zog ein unscheinbarer Mann mit Baseballkappe eine Violine aus ihrem Koffer und begann zu spielen. Doch nur wenige der Pendler hielten während der 45 Minuten inne, die der Mann spielte, um ihm zuzuhören. Noch weniger gaben ihm Geld. Am Ende hatte er lediglich 32 Dollar und 17 Cent in seinem Koffer und fühlte sich, obwohl er nach eigener Aussage „ganz schön Lärm gemacht“ hatte, von den vorbeiziehenden Pendlern völlig ignoriert.1 Das ganze Geschehen stellte sich im Nachhinein als ein Experiment der Washington Post heraus. Der Geiger war niemand Geringeres als Joshua Bell, ein Superstar der Klassikszene. Seine Geige war eine Stradivari im Wert von 3,5 Millionen Dollar. Als er drei Tage zuvor ein Konzert gegeben hatte, hatte sein Publikum mindestens 100 Dollar pro Platz in einer ausverkauften Konzerthalle bezahlt, um ihm zuzuhören. Aber in der U-Bahn-Station wurde er nicht wahrgenommen.
Es wäre zu einfach, das Ergebnis dieses sozialen Experiments auf die Ignoranz der Washingtoner Pendler zu schieben. Vielmehr zeigt es die Bedeutung von Kontext: Um uns herum kann etwas Außergewöhnliches passieren, doch wenn es im Alltag geschieht, nehmen wir es oftmals nicht so richtig wahr. Das gilt nicht nur für klassische Musik, sondern auch für die Kernthemen dieses Buchs: Daten und Künstliche Intelligenz (K.I.). Denn genauso wenig wie die Pendler in Washington die Musik von Joshua Bell wahrgenommen haben, haben sie auch nicht wahrgenommen, dass ihre komplette Reise durch und durch von11Daten beeinflusst wurde. Daten haben unter anderem den Fahrplan, die Art des Zuges und den Dienstplan des Personals mitbestimmt. Daten sorgten für einen möglichst reibungslosen Ablauf des Fahrplans, das frühzeitige Erkennen von Störungen und das Schalten der Werbeanzeigen auf den Bildschirmen im Bahnhof. All das passierte im Hintergrund und wäre höchstens dann bemerkt worden, wenn es einmal nicht richtig funktioniert hätte.
Wie sehr Daten unsere Gegenwart prägen und wie sehr sie unsere Zukunft verändern werden, ist auf den ersten Blick leicht zu übersehen. In zahlreichen Publikationen werden zwar die neuesten Errungenschaften in Sachen Daten und K.I. vorgestellt, der immense Wert von Datenschätzen betont oder über „Datensammelskandale“ berichtet, doch die meisten dieser Artikel wirken so, als würde das Thema Daten nur in der Zukunft, in fernabliegenden Rechenzentren oder für große Softwarefirmen Relevanz haben. Doch in Wahrheit findet die Datenwende nicht „woanders“ oder „demnächst“ statt. Sie ist schon längst in unserem privaten und beruflichen Alltag angekommen – und hat dabei gerade erst angefangen.
Selbst einfachste Tätigkeiten wie Einkaufen sind bereits heute durch und durch von Daten betroffen. Wenn Sie beispielsweise das nächste Mal im Supermarkt einkaufen, dann haben Daten und die komplexen Muster, die sich in ihnen verbergen, an unzähligen Stellen eine wesentliche Rolle gespielt: Daten haben dem Hersteller gesagt, welche und wie viele Produkte er herstellen muss. Daten haben dem Supermarkt gesagt, welche Anzahl von jedem Produkt er im Regal haben muss und wie viele Produkte wann nachbestellt werden müssen, damit die gesamte Auswahl ausreichend vorhanden ist, aber auch möglichst wenig Ware verdirbt. Daten haben präzise Empfehlungen erzeugt, wo im Laden die Produkte stehen und wie sie bepreist werden sollten. Wann und worauf es Rabatte gibt. Daten haben die Beladung und Fahrstrecken der LKWs optimiert, die die Waren zum Supermarkt bringen. Daten haben die Produktionsprozesse der Hersteller bis ins kleinste Detail optimiert (selbst das hauchdünne Plastik im Inneren eines Milchkartons entsteht mittels datenoptimierter Prozesse). Demnächst werden Daten die gesamte Rohstoffkette jedes Produkts nachweisen. Und die Bonuskarte, die am Ende mit über den Scanner gezogen wird, erzeugt weitere Daten, um unser Einkaufsverhalten noch besser zu verstehen.
Wenn schon ein scheinbar einfacher Vorgang wie das Einkaufen im Supermarkt von Daten und datenbasierten Entscheidungen durchflossen ist, dann kann man sich gut vorstellen, dass dies nur die Spitze des Eisbergs (Datenbergs?) ist. Die Welt ist komplex und vielschichtig – mit einer endlosen Zahl von Variablen und Zusammenhängen, die schwer zu durchschauen sind. Daten e