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In den kommenden Tagen brütete Leona jede freie Minute über den Akten. Allerdings ohne einen Hinweis darauf, dass Henrike auf etwas gestoßen sein könnte, was Gabys Verdacht gerechtfertigt hätte. Inzwischen gab es nur noch einen Ordner, der darauf wartete, von ihr durchgearbeitet zu werden. Er trug die Aufschrift ›Klassentreffen‹ und war, dem Inhalt nach zu urteilen, erst kurz vor Henrikes Tod angelegt worden. Zuoberst befand sich eine an sie gerichtete Einladung. Gespannt nahm Leona das Schreiben zur Hand und las:
Liebe Henrike, 1990 haben wir mit dem Abi den Grundstein für unser zukünftiges Leben gelegt. Über 30 Jahre ist das nun schon her. Zeit, um bei einem gemütlichen Beisammensein in der Lindein Middelhagen alte Erinnerungen aufzufrischen und uns darüber auszutauschen, welche Wege wir inzwischen beschritten haben, wohin es wen verschlagen hat und was aus den Plänen geworden ist, die wir damals hatten. Hiermit bist du eingeladen, Teil dieses Wiedersehens zu sein!
Es folgten Datum und Uhrzeit, aus denen hervorging, dass das Klassentreffen in der Woche vor Henrikes Tod stattgefunden hatte. Auf den nächsten Seiten fand Leona eine Auflistung sämtlicher Teilnehmer, einschließlich der dazugehörigen Anschriften und Telefonnummern. Ein von Henrike eingekreister Name erweckte Leonas Aufmerksamkeit, und sie beschloss, ihre Nachforschungen mit dieser Person zu beginnen. Sie hieß Hanska Krohn und wohnte in Stralsund. Nachdem Leona die Frau angerufen und ihr Anliegen geschildert hatte, erklärte sie sich zu einem Treffen bereit.
Jedes Mal, wenn Leona mit ihrem Auto über die neue Rügenbrücke nach Stralsund fuhr, stachen ihr sofort die prächtigen Backsteinbauten ins Auge. Allen voran die drei großen gotischen Kirchen mit ihrem geschichtsträchtigen Hintergrund. Leona würde niemals die beeindruckende Sicht vergessen, die sich ihr von der Plattform des Kirchturms von Sankt Marien geboten hatte. Es hieß, dass man bei klarer Sicht sogar bis hinüber nach Hiddensee schauen konnte.
Von der Erinnerung eingeholt, wanderten ihre Gedanken zurück in die Altstadt mit ihren verwinkelten Kopfsteinpflasterstraßen. Dorthin, wo der von liebevoll sanierten alten Kaufmannshäusern gesäumte Weg direkt zum Alten Markt mit seinem malerischen Rathaus führte. Wenn die Sonne schien, konnte man den Himmel durch die in die Fassade eingelassenen Blendöffnungen leuchten sehen. Leona fand, dass es kaum einen schöneren Kontrast zwischen Himmelblau und Backsteinrot gab.
Vom Alten Markt aus war es nur noch ein Katzensprung bis zum Hafen. Plötzlich musste Leona an die letzten Hafentage denken. Sie war über den Küstenmarkt geschlendert und hatte die zum Verkauf angebotenen Waren bestaunt. Es gab so ziemlich alles, was das Herz beg