1THEA
Die Stimme der Sängerin streifte sie wie der Hauch des Abendwindes, der vom Meer kommend über die trockenen Wiesen strich. Langsam ließ die sommerliche Hitze nach. Die leichte Brise brachte etwas Abkühlung auf die menschenleere Ebene imAlentejo, auf der sie mit ihren Tieren rastete. Die gesungenen Worte derfadista trafen Thea an ihrer schwachen Stelle.
Nur die Stille höre ich, die deinen Platz eingenommen hat, sang die Sängerin wehmütig.Aber wenigstens hört man den Wind, und wenigstens hört man das Meer.
Thea sog die Luft ein, weil ihre Kehle eng wurde. Ihr war bewusst, dass Menschen wie sie, die einen tiefen Verlust erfahren hatten, bei diesen Zeilen einen Schmerz in der Brust spürten. Ab und an ließ sie ihn zu. Sie hatte gelernt, dass es leichter war, mit ihm zu leben, als ihn immerfort zu verleugnen.
Thea blinzelte die Traurigkeit weg und zog die Strickjacke aus Schafwolle über ihre Schultern. Eine Böe trug den Duft des wilden Thymians mit sich.
Nur nicht melancholisch werden am Vorabend ihrer Abreise. Sie hatte diese Entscheidung nach vielen schlaflosen Nächten getroffen und würde sie nicht mehr infrage stellen.
Lange sah sie hinüber zu den beiden Ziegenhirten, die vor dem kleineren Camper saßen und von denen der Geruch nach gegrilltem Hammel zu ihr herüberzog. Mateus hob den Kopf, als habe er ihren Blick bemerkt.
«Queres comer connosco? Willst du mitessen?», rief er ihr zu.
Sie winkte ihm zu. «Não, obrigado! Nein danke!»
Diesen letzten Abend wollte sie allein verbringen. Nur sie und dervinho tinto. Der köstliche Wein und Amália Rodrigues’ Stimme, die aus dem in die Jahre gekommenenCD-Player rieselte, würden heute Nacht ihre einzigen Begleiter sein. Vermischt mit dem Zirpen der Zikaden, die hinter dem Eukalyptus im Gras hockten, und dem dunklen Klagen der Ziegen, das ab und an den Fado übertönte. Man musste die Wunde säubern, bevor sie verheilen konnte. Und heute Nacht würde sie den alten Schmerz zulassen, um morgen ein ganz neues Leben beginnen zu können.
Es war nie leicht gewesen alsimigrante in Portugal. Blauäugig war sie mit Ende zwanzig gewesen. Jung und tief verletzt. Weg hatte sie gewollt, von einem Tag auf den anderen, weg aus Deutschland, weg aus der Heide. Es war ein spontaner Entschluss gewesen, Portugal kam ihr als Erstes in den Sinn. Doch das Leben an der Algarve hatte sie sich leichter vorgestellt, mit mediterranen Nächten, langen Tagen am Meer und entspannten Menschen. Es war ihr nicht schwergefallen, Kontakte zu knüpfen. Doch die hatten ihr erst einmal das Geld aus der Tasche gezogen. Nach einem halben Jahr war ihr Erspartes aufgebraucht gewesen, das anfängliche Urlaubsgefühl verflogen. Die Realität der harten Arbeitswelt Portugals vertrieb die erste Euphorie. Nein, sie hatte nicht klein beigegeben. Zurück nach Hause zu ziehen, war damals nie eine Option gewesen.
Es hatte Jahre gedauert, ein wenig heimisch zu werden und von den mageren Löhnen ihrer wechselnden Aushilfsjobs in der Gastronomie die teure Miete in Lissabon zahlen zu können. Als sie vor gut fünf Jahren einen Aufruf in der TageszeitungCorreio da Manhã las, in dem Wanderhirten für Ziegen gesucht wurden, hatte sie sich spontan gemeldet. Sie kündigte ihre kleine Wohnung, kaufte ein altes Wohnmobil und führte fortan ein Nomadenleben.
Thea liebte Tiere und die Freiheit. Als Kind war sie beinahe jedes Wochenende bei ihrem Onkel auf dem Bauernhof in der Lüneburger Heide gewesen, der eine große Herde von Heidschnucken hielt, eine alte Landschaf-Rasse mit schwarzen Beinen, Schwänzen und Köpfen. Ihre Lieblinge waren jedoch die Ziegen gewesen, die ebenfa