: Leo N. Tolstoi
: Peter Bürger
: Was ist Kunst ? Aus dem Russischen von Michail Feofanov
: Books on Demand
: 9783757841034
: 1
: CHF 4.90
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: Allgemeines, Lexika
: German
: 228
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieser Band enthält die unzensierte Gesamtfassung von L.N. Tolstois Traktat"Was ist Kunst?" (abgeschlossen 1897/98). Bedenkliche Attacken gegen berühmte Werke der europäischen Moderne bilden keineswegs den Kern dieser Schrift. Der Verfasser möchte Wege bahnen für eine allen zugängliche"Kunst der Zukunft", die zur Einen Menschheitsfamilie führt:"Die Kunst unserer Zeit muss katholisch sein im reinen Sinne dieses Wortes, d.h. universell - und daher alle Menschen vereinigen." Ein Kultur- und Wissenschaftsbetrieb der"Siegestempel" dient den Kapitalinteressen und Mächtigen. Er liefert"Werkzeuge zur Ausrottung der Menschen". Doch die Kunst soll sich dem ansteckenden"Heldentum der Liebe" widmen und der Gewalt wehren:"Nur die Kunst kann dies tun.""Warum heute'Was ist Kunst?' lesen?" - so fragt Marco A. Sorace in der Einleitung zu dieser Neuedition der Übersetzung von Michail Feofanov (1902)."Ohne Zweifel nicht, um sich über einzelne Positionen der Ästhetik oder Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts zu informieren - darüber gibt es (auch aufgrund des nötigen zeitlichen Abstands) unterdessen besseres. Aber vielleicht hat in seiner Zeit kaum ein Zweiter die zivilisatorische Krise so ernst genommen und dermaßen radikal auf die Kunst bezogen wie Leo N. Tolstoi in diesem Text. Gegenwärtig, in unserer nicht minder krisenhaften Zeit kann'Was ist Kunst?' - die Fallstricke eines normativen und moralistischen Kunstverständnisses wohl beachtend - gelesen werden als ein dringender Aufruf, das ethische und gemeinschaftsstiftende Potenzial der Kunst neu zu heben." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 11 (Signatur TFb_A011) Herausgegeben von Peter Bürger Editionsmitarbeit: Bodo Bischof

Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane"Krieg und Frieden" (1862-1869) und"Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum"Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte"Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen"Kunstthe rie" und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt:"Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."

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Nehmen Sie eine beliebige Zeitung unserer Zeit und in jeder finden Sie eine Abteilung für Theater und Musik; fast in jeder Nummer finden Sie eine Beschreibung dieser oder jener Ausstellung oder eines einzelnen Bildes, und in jeder sind Berichte über neuerscheinende Bücher künstlerischen Inhalts, Gedichte, Novellen und Romane zu finden.

Es wird ausführlich und unmittelbar, nachdem es geschehen ist, berichtet, wie die Schauspielerin so und so, oder ein Schauspieler in dem und dem Drama, der und der Komödie oder Oper die eine oder die andere Rolle gespielt haben, welche Vorzüge sie dabei gezeigt haben, worin der Inhalt des neuen Dramas, der neuen Komödie oder Oper, ihre Mängel und Vorzüge bestehen. Mit derselben Ausführlichkeit und Gewissenhaftigkeit wird beschrieben, wie der und der Künstler dies oder jenes Stück gesungen oder auf dem Klavier oder der Geige vorgetragen hat, worin die Vorzüge und Mängel dieses Stückes und seines Vortrages liegen. In jeder großen Stadt ist immer, wenn nicht mehrere, so wenigstens doch eine Ausstellung neuer Bilder, deren Vorzüge und Mängel von den Kritikern und Kennern mit dem größten Tiefsinn einer Besprechung unterzogen werden. Fast jeden Tag erscheinen neue Romane, Gedichte in Sonderausgaben und in Zeitschriften, und die Zeitungen halten, es für ihre Pflicht, ihren Lesern ausführliche Berichte über diese Erzeugnisse der Kunst zu geben.

In Rußland, wo für die Volksbildung nur ein Hundertstel dessen, was zur Verschaffung von Lehrmitteln für das ganze Volk nötig ist, verausgabt wird, erhalten die Akademien, Konservatorien und Theater Millionen an Zuschüssen von der Regierung. In Frankreich werden für die Künste 8 Millionen bestimmt, dasselbe trifft man auch in Deutschland und England. In jeder großen Stadt baut man riesige Gebäude für Museen, Akademien, Konservatorien, dramatische Schulen, Vorstellungen und Konzerte. Hunderttausende von Arbeitern – Zimmerleute, Maurer, Maler, Tischler, Tapezierer, Schneider, Friseure, Juweliere, Bronzearbeiter, Setzer – verbringen ihr ganzes Leben in schwerer Arbeit zur Befriedigung der Forderungen der Kunst, so daß es kaum eine andere menschliche Thätigkeit, außer der militärischen, giebt, die so viel Kräfte verschlingt, wie die Kunst.

Nicht genug aber, daß solch eine große Arbeitskraft für diese Thätigkeit aufgewandt wird, – man vergeudet für sie ebenso, wie für den Krieg, einfach Menschenleben: hunderttausende von Menschen widmen von Jugend auf ihr ganzes Leben, um möglichst schnell die Beine drehen zu lernen (die Tänzer); andere (die Musiker), um möglichst schnell die Tasten oder die Saiten berühren zu lernen; andere (die Maler) um in Farben malen zu lernen und alles, was sie erblicken, wiederzugeben; die vierten um jede Phrase auf jegliche Art umzuwenden zu verstehen und für jedes Wort einen Reim zu finden. Und solche Menschen, die oft sehr gut, klug und zu jeder nützlichen Arbeit fähig sind, verwildern in diesen ausschließlichen sinnberaubenden Beschäftigungen, stumpfen gegen alle ernsten Erscheinungen des Lebens ab, werden einseitige und selbstzufriedene Spezialisten, die nur die Beine, die Zunge oder die Finger zu drehen verstehen.

Aber das ist nicht alles. Ich erinnere mich, wie ich einmal einer Probe einer der gewöhnlichen neuesten Opern, die in allen Theatern Europas und Amerikas aufgeführt werden, beiwohnte. Ich kam, als der erste Akt bereits begonnen hatte. Um in den Zuschauerraum zu treten, mußte ich durch die Kulissen durchgehen. Man führte mich durch dunkle Gänge und Durchgänge des Erdgeschosses des riesigen Gebäudes, an großen Maschinen zur Veränderung der Dekorationen und der Beleuchtung vorüber, wo ich Mens