Prolog
Louisa Thompson
15 Jahre zuvor
Erik Thompson hielt den roten Pick-up direkt vor der Notaufnahme des Squamisch General Hospital und warf ihr einen mürrischen Blick zu. Lou beachtete ihren Vater nicht weiter, sondern öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen. Dann warf sie die Beifahrertür hinter sich zu und lief, so schnell sie konnte, zum Eingang des Krankenhauses.
Sie verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an die Standpauke ihres Vaters, die er ihr gerade während der Fahrt von Calgary nach Golden Creek gehalten hatte. Schließlich hatten sie sich die letzten acht Stunden über kaum etwas anderes als ihr Liebesleben unterhalten. Aber letztendlich zählte nicht, ob er mit ihrer Entscheidung einverstanden war oder nicht, sondern, dass er trotz der weiten Entfernung die lange Fahrt auf sich genommen hatte. Acht verflucht lange Stunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen waren.
Lou stürmte durch die Eingangstür, vorbei an Schwester Claire, die sich gerade mit einem Patienten unterhielt und kurz den Kopf hob, als sie Lou entdeckte. In den letzten Wochen war sie der Krankenschwester schon einige Male begegnet, deshalb schenkte sie ihr nur ein kleines Lächeln und rannte weiter. Einen Moment hielt sie inne, dann entschied sie sich dafür, die Treppe in den dritten Stock zu nehmen, anstatt mit dem Aufzug zu fahren, und stürmte ins Treppenhaus.
Als sie oben angekommen war, riss sie die Tür zur Unfallchirurgie auf und lief den Gang entlang, bis sie auf Coopers Zimmer am Ende stieß.
Dort sah sie Luke, der auf einem blauen Plastikstuhl im Flur saß und zu Boden sah. Er sah mitgenommen aus. So wie fast jeden Tag in den letzten Wochen.
»Hey«, keuchte sie und blieb stehen.
Luke riss den Kopf nach oben, sogleich umspielte ein Lächeln seine Lippen. »Hey. Du bist tatsächlich gekommen.«
»Was glaubst du denn? Dad ist die halbe Nacht durchgefahren.« Dann hielt sie inne und strich sich eine rotblonde Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sie auf ihn wirken musste: Ihre Jeans waren an den Knien aufgerissen, ihr Shirt zerknittert, und ein paar Flecken Kakao, den ihr Vater an der Tankstelle mitgenommen hatte, waren darauf zu sehen. Vermutlich sah sie aus wie ein verschlafener Waschbär. Sie hatte sich weder die Zähne geputzt noch die Haare gekämmt. Dafür war keine Zeit gewesen, nachdem sie heute Nacht den entscheidenden Anruf erhalten hatte. Keine Sekunde hatte sie mehr warten wollen. Denn sie hatte lange genug gewartet. Auf diese drei Worte.
Coop ist aufgewacht.
Lou wollte zu ihm. Nach all der langen Zeit des Wartens wollte sie ihm endlich wieder in die Augen sehen. Ihn küssen. Ihn festhalten und niemals wieder loslassen.
Aber jetzt, nachdem sie endlich angekommen war, war sie sich nicht mehr sicher, ober sie überhaupt sehen wollte. Zweifel konnten grausam sein. Was, wenn er sich nicht mal mehr an sie erinnerte?
»Wo ist dein Vater jetzt?«, fragte Luke, stand auf und steckte die Hände in die Hosentasche. Lou trat noch einen Schritt nach vorne.
»Er verbringt den Tag bei Ms Alice. Wir müssen später wieder nach Calgary zurück.«
Luke kaute auf seiner Unterlippe, während sich eine bedrückende Stille um sie legte. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
»Erzähl mir alles. Wann ist er aufgewacht? Hat er nach mir gefragt? Wie geht es ihm?« Sie konnte sich kaum noch bremsen, so viele Fragen wirbelten ihr durch den Kopf. Lou konnte es immer noch kaum glauben – Cooper hatte es geschafft.
Aber als sie Luke ansah, blieb ihr Gedankenstrudel wie auf Kommando stehen. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Fast wie ein Schatten, der sich darauf breitmachte. Sein Schweigen verunsicherte sie. Mehr, als sie zugeben wollte.
Coopers bester Freund starrte zu Boden und bewegte sich nicht. Ja, es schien fast, als atmete er nicht einmal mehr.
»Luke? Sprich mit mir. Was ist mit ihm?«
Jamie schluckte und rieb sich die Hände. Er hatte die Schultern nach oben gezogen und mied ihren Blick. Man musste kein Psychologe sein, um zu erkennen, wie unwohl er sich gerade fühlte.
»Verdammt noch mal, Luke!« Jetzt klang ihre Stimme ein wenig lauter. Aber sie hörte das Zittern heraus. Sie hasste diese Unsicherheit. Diese unsagbare Angst, die sie seit dem Unfall verfolgte.
»Vor zwei Tagen«, flüsterte er.
Lou spürte, wie ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Sie taumelte nach hinten und ließ sich auf einen der Plastikstühle sinken.
»Was?«
Beschämt sah Luke sie an. »Er ist vor zwei Tagen aufgewacht.«
Zwei Tage. Zwei verdammte Tage, und keiner hatte ihr Bescheid gegeben? Sie wäre sofort gekommen. Sie wäre alleine nach Golden Creek gefahren, selbst mitten in der Nacht. Aber niemand hatte es für nötig erachtet, sie zu informieren.
Luke strich mit den zertretenen Turnschuhen quietschend über den Fußboden. Er sah sie immer noch nicht an, und Wut kochte in ihr auf.
»Cooper ist vor zwei Tagen aufgewacht, und du hast mich nicht informiert?«
Luke riss den Kopf nach oben, in seinem Blick lagen so viel Reue und Mitgefühl, dass ihr ganz anders wurde. Sie kannte Luke schon ihr ganzes Leben lang. Sie waren Freunde. Er war Coopers bester Freund. All die Jahre waren sie unzertrennlich gewesen, und jetzt hatte er ihr nicht einmal gesagt, dass er es geschafft hatte? Nach all den Wochen, in denen sie nicht wusste, ob er überleben würde? Nach all den Stunden, die sie in diesem Krankenhaus verbracht hatte? Die Nächte, die sie an seinem Bett verbracht hatte?
»Er wollte es nicht, okay? Ich habe es versucht, das musst du mir glauben. Ich habe ihm versprechen müssen, dass ich dich nicht anrufen werde. Es tut mir wirklich leid, Lou.«
Acht Wochen war der Unfall nun her. Acht Wochen, in denen Cooper im Koma gelegen hatte. In dieser Zeit war sie fast jedes Wochenende von Calgary nach Golden Creek gefahren und hatte an seinem Bett gewacht, ihm Geschichten erzählt, seine Hand gehalten. Manchmal hatte sie sich sogar zu ihm ins Bett gekuschelt und die Schwestern gebeten, ein Auge zuzudrücken. Dann hatte sie ihn geküsst – wieder und wieder – und ihm gedroht, erst wieder damit aufzuhören, wenn er endlich aufwachte.
Sie liebte Cooper, und er empfand dasselbe für sie, das wusste Lou. Warum also hatte er nicht gewollt, dass Luke sie anrief? Ihr gingen so viele Gedanken durch den Kopf. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass er während des Krankenhausbesuchs bei Ms Alice sein würde.
Dabei wusste Lou, dass das nicht stimmte. In Wahrheit befand er sich am Grab ihrer verstorbenen Mutter und würde dort bleiben, bis die Sonne unterging. Lou hatte ihn eines Tages dort entdeckt, als sie nach einem Besuch bei Cooper ein wenig nachdenken musste. Sie war durch Golden Creek gelaufen, und ihre Beine hatten sie geradewegs zum Friedhof geführt. Dort hatte sie ihn gesehen. Mit geschlossenen Augen hatte er, gegen den Grabstein gelehnt, im Gras gesessenMy Girl von den Temptations gesummt und sich nicht bewegt. Ihn so zu sehen hatte ihr ein wenig das Herz gebrochen.
Ihr Dad hatte Golden Creek den Rücken gekehrt, um die schmerzlichen Erinnerungen loszuwerden, aber wie es schien, holten diese ihn immer wieder ein.
Ihr Blick fiel auf die Krankenhaustür, und der Schmerz bohrte sich tief in ihre Brust. Bei jedem Besuch hatte sie gehofft, dass die Ärzte Neuigkeiten für sie hätten, und sie hatte Rosie, Coops Tante, angebettelt, ihr sofort Bescheid zu geben, sobald er aufwachen würde.
Sie hatte es ihr versprochen. Jedes Mal. Und jetzt, da es so weit war, hatte niemand sie angerufen. Keiner von diesen verdammten Creeks.
Ihr Dad hatte es von Ms Julie erfahren. Gestern Abend, als sie beim Abendessen gesessen und das Telefon geklingelt hatte.
Es war ein belangloses Gespräch gewesen. Über das Wetter, die bevorstehende Wintersaison, der ewige Zwist zwischen Ms Julie und ihrer alten Freundin Ms Alice.
Bis Coopers Name gefallen war.
Lou hatte nicht vorgehabt, dieses Wochenende nach Golden Creek zu fahren. Das Auswahlverfahren für das College stand bevor, und ihr war die...