: Heinz-Peter Preußer
: TEXT + KRITIK 237 - Juli Zeh
: edition text + kritik
: 9783967077933
: 1
: CHF 24.30
:
: Sprach- und Literaturwissenschaft
: German
: 109
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Wir alle brauchen Autoren wie dich, die mit der Stärke ihrer Persönlichkeit und der Kraft ihres Ausdrucks gegen den Unsinn ankämpfen, der die Welt zu überschwemmen droht.' Burkhard Spinnen in einer Laudatio auf Juli Zeh (*1974). Sie wird als politisch engagierte Autorin wahrgenommen, die sich in öffentliche Debatten einmischt. Mit 'Unterleuten' hat Juli Zeh einen vielbeachteten Gesellschaftsroman vorgelegt: ein Bestseller, der als Dreiteiler im ZDF filmisch adaptiert wurde. Zeh wird zudem oftmals geehrt; 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Doch Kritik und Literaturwissenschaft begegnen der studierten Schriftstellerin und promovierten Juristin, deren Themen und Plot-Konstruktionen im Vordergrund ihrer Erzähltexte stehen, auch skeptisch. Komplexe Theoreme etwa der Physik ('Schilf') entwirft die Autorin im Genre des Kriminalromans. Durchgängig finden sich apokalyptische Szenerien: als Zeitdiagnose ('Spieltrieb') oder Vorausdeutung (wie in 'Corpus Delicti' und 'Leere Herzen'). Schlussbilder und Wendepunkte ihrer Narrationen oder grotesken Theaterstücke bieten überwiegend surreal überzogene Exzesse (etwa 'Neujahr'), welche die vorigen, 'realistischen' Psychologisierungen ihrer Figuren auffällig und überraschend konterkarieren. Der vorliegende Band möchte dem besonderen, ja einzigartigen Rang Juli Zehs gerecht werden und versammelt deshalb Essays zu Einzelwerken, aber auch zu übergreifenden Fragestellungen sowie Gesamtdeutungen ihrer bisherigen Publikationen.

Heinz-Peter Preußer ist Professor an der Universität Bielefeld und unterrichtet 'Theorie und Geschichte der Medien, Gegenwartsliteratur'.

Juli Zeh

Anfänge nicht veröffentlichter und unvollendeter Romane


Zu meiner Schreibpraxis gehört es, viele Texte zu schreiben, die ich irgendwann aufgebe, vor allem Romane. Manchmal sind es nur Anfänge von zwanzig oder fünfzig Seiten; manchmal sind sie zur Hälfte oder zu zwei Dritteln erzählt; und es gibt auch Fälle, in denen der Text eigentlich schon fertig ist, ich mich aber trotzdem dagegen entscheide, ein Buch daraus zu machen. Je länger der letzte Arbeitstag an einem bestimmten Text zurückliegt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ich ihn noch fortentwickele. Das ist das »Survival of the Fittest« in meinem kreativen Prozess. Unten vier Beispiele von Romanen, die es nicht geschafft haben. Die Datierungen sind sehr unpräzise, da es immer um lange Arbeitsphasen geht und ich mich meistens nicht genau erinnern kann, wann ich ein Projekt begonnen und dann wieder fallen gelassen habe.

»Die guten Jäger«, unvollendet, momentan ca. 250 Seiten (um 2017/18)

Alle Häuser im Viertel sind erleuchtet. Wenn nicht die großen Erkerfenster im Erdgeschoss, mit Blick auf Esstische, Kronleuchter und Bücherregale, dann jedenfalls ein paar kleinere im ersten Stock, hinter denen Menschen Zähne putzen, Augenbrauen zupfen oder im Bett sitzen und noch etwas lesen, bevor sie das Licht ausknipsen und sich hinlegen für die Nacht.

In den Vorgärten ist das Gras gemäht, ordentlich, aber auch nicht zu akkurat, mit einer kleinen Verbeugung in Richtung Natur wie bei einem gepflegten Fünf-Tage-Bart. Es gibt mehr Obstbäume als Zierbüsche, aber nicht Apfel, das wäre zu rustikal. Kirsche und Quitte stehen hoch im Kurs, und ich kann mir vorstellen, wie sie sich hier alle ihre selbstgemachten Gelees über die Zäune reichen. Es ist Ende April, die Bäume präsentieren stolz ihr hellgrünes Gewand. An den Kastanien hängen dicke, klebrige Knospen. Während ich an den Zäunen entlanggehe, wehen mich schwere Düfte an, als hätten die Häuser ihre Abendgarderobe mit einem satten Spritzer Parfüm ergänzt. Ansonsten riecht es nach dem Regen, der seit Wochen ständig fällt. Nach feuchtem Asphalt und nach Studienabschlüssen.

Im Vergleich zur Größe der Häuser sind die Gärten klein. Die Häuser stehen alle einzeln, es gibt keine DHHs, wie die Makler sagen. Aber die Makler sagen ohnehin nicht viel über dieses Viertel, außer, dass es unmöglich ist, hier etwas zu kriegen, es sei denn, man ist bereit, einen Mord zu verüben. Ich gehe langsam, das Viertel ist nicht groß. Ich schreite jede einzelne Straße ab. Ich fange an, die Menschen zu kennen. Familienväter mit grau melierten Schläfen, die die Küche aufräumen. Den Literaturkreis in der großen Gründerzeitvilla, der jeden Mittwochabend mit Weingläsern in Händen auf Korbmöbeln zusammensitzt, während einer aus einem Buch vorliest. Eine alte Frau, die vor einem Regal steht und nachdenklich etwas mustert, das ich nicht erkennen kann. Eine junge, die ein Baby durchs Wohnzimmer trägt, während sich ihre Lippen bewegen, vielleicht singt sie etwas. Eine Katze, die immer auf derselben Fensterbank zwischen zwei Kerzenleuchtern schläft. Ein Mann, der im ersten Stock an einem kleinen Fenster sitzt, eine Lupe wie ein Monokel ins Auge geklemmt; ich wüsste gern, wor