: Ralf Georg Reuth
: 1923 - Kampf um die Republik
: Piper Verlag
: 9783492602082
: 1
: CHF 25.80
:
: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Bevor die Zwanziger golden wurden - 1923 Das unter den Folgen des verlorenen Weltkriegs ächzende Deutschland kann die ihm auferlegten Reparationen nicht mehr leisten. Die Franzosen besetzen daraufhin das Ruhrgebiet. Berlin reagiert mit passivem Widerstand. Doch die Wirtschaft bricht zusammen - eine nie dagewesene Inflation sucht das Land heim, Moskau und die KPD wollen das Chaos für den Umsturz zur Weltrevolution nutzen. Und die Hitler-Bewegung macht sich bereit für den Sturm auf die Republik. Eine schier ausweglose Lage für die Reichsregierung...

Ralf Georg Reuth ist Historiker und Autor. Er war lange Zeit als Berlin-Korrespondent für die Frankfurter Allgemeine Zeitung tätig und arbeitete danach für verschiedene Blätter des Axel Springer Verlags. Reuth hat zahlreiche Bücher zur Zeitgeschichte vorgelegt. Unter anderem porträtierte er Erwin Rommel, schrieb über Hitlers Judenhass und verfasste das Standardwerk zu Joseph Goebbels. Zuletzt erschien bei Piper 1923 - Kampf um die Republik.

Der Weg in die große Krise


November 1918 – Dezember 1922

In der Silvesternacht 1922/23 wird in Berlins Ballhäusern und Varietés gefeiert, als gäbe es kein Morgen, zumindest von denen, die es sich leisten können. Dahinter verbirgt sich eine trotzige Gier nach Leben, haftet doch der deutschen Gegenwart etwas Finales an. Ein diffuses Gefühl hat sich breitgemacht, dass alles ohnehin zu Ende gehe. Denn Deutschland ächzt unter der Last der Kriegsfolgen, unter der Last der äußeren Bedrohungen und der ins Uferlose angestiegenen Inflation, die so vielen alles genommen hat. Hinzu kommt, dass nichts mehr ist, wie es einmal war. Einen gemeinsamen Kanon mit seinen althergebrachten Tugenden gibt es längst nicht mehr, genauso wenig ein verbindendes und verbindliches Weltbild, das die Nation einmal zusammengehalten hat. Stattdessen herrschen Klassenkampf und Klassenhass und als Antwort darauf die Angst vor dem bolschewistischen Schreckgespenst; und weil man es für ein »jüdisches Schreckgespenst« hält, nimmt auch der Antisemitismus zu. Überhaupt ist die Angst vor dem Morgen die Grundstimmung, die die deutsche Gesellschaft beherrscht, eine Gesellschaft, in der sich die einen nach weggeworfenen Zigarettenstummeln bücken oder als Kriegskrüppel auf Brettern über die Bürgersteige rollen, während die anderen auf dem Vulkan tanzen und das Trugbild einer faszinierenden Zeit vermitteln. Der Maler und Karikaturist George Grosz schreibt in seiner Autobiografie darüber: »Es war eine völlig negative Welt, mit buntem Schaum obenauf […]. Dicht unter dieser lebendigen Oberfläche, die so schön wie ein Sumpf schillerte und ganz kurzweilig war, lagen der Bruderhass und die Zerrissenheit […].«[8]

***

Bruderhass und Zerrissenheit hatten mit dem Trauma des verlorenen Weltkriegs zu tun, der zwei Millionen deutschen Soldaten das Leben gekostet hatte. Und sie hatten mit der Revolution des Novembers 1918 zu tun, als die Matrosen in den Kriegshäfen meuterten und rote Fahnen auf den Schiffen aufzogen. Jene, die seit Jahren tatenlos herumgelungert hatten, war doch die Kriegsflotte seit der Skagerrak-Schlacht im Sommer 1916 nicht mehr ausgelaufen, wollten sich nicht mehr in einem letzten Gefecht verheizen lassen. So taten sie es vielmehr ihren russischen Brüdern gleich, die im Jahr zuvor mit den Schüssen des PanzerkreuzersAurora in Petersburg die Revolution eingeleitet hatten. Von den norddeutschen Küsten weitete sich die Revolte, die eigentlich eine Friedensrevolte war, einem Flächenbrand gleich auf ganz Deutschland aus. Der Kaiser musste abdanken, und die Reaktion, die diesen fürchterlichen Krieg mitverantwortet hatte, lag am Boden. Das Ancien Régime fand ein klägliches Ende. Doch die, die jetzt die Macht in Händen hielten, waren uneins, wie das politische Deutschland in Zukunft aussehen sollte. Die dominierenden Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) um Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert wollten eine parlamentarische Demokratie. Die äußerste Linke um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht trat mit Teilen der Unabhängigen Sozialdemokraten (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD) für eine Räterepublik nach russischem Vorbild ein. So wurden am 9. November 1918 zwei ganz und gar unterschiedliche Republiken ausgerufen. Und die Gräben zwischen den Gemäßigten und den Radikalen, die sich zunächst unter Führung der MSPD zu einer provisorischen Regierung, dem Rat der Volksbeauftragten, zusammengefunden hatten, sollten bald immer tiefer werden.

Im Dezember 1918 kam es dann zum Bruch. Die USPD kündigte der MSPD die Zusammenarbeit auf, indem sie den Rat der Volksbeauftragten verließ und sich gegen die schnelle Wahl einer Nationalversammlung aussprach. Die zum Jahreswechsel 1918/19 aus Teilen der USPD und anderen linken Gruppierungen gegründete KPD verweigerte sich diesen Wahlen vollends und ging den Weg der revolutionär-außerparlamentarischen Opposition – denselben Weg, den Lenin 1917 in Russland beschritt, nachdem er erkannt hatte, dass seine Bolschewiki auf demokratischem Weg nicht die Macht würden erringen können. Im Januar 1919 probten die deutschen Kommunisten den Umsturz. Doch der Berliner Spartakusaufstand wurde unter der Verantwortung des Sozialdemokraten Gustav Noske mit Waffengewalt niedergeschlagen. Der Tod Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts – Freikorpsangehörige liquidierten sie – zerschnitt unwiderruflich die letzten Bande innerhalb der Linken. Die Folge: In Deutschland zogen für die kommenden Jahre bürgerkriegsähnliche Zustände herauf.

Und dennoch fasste die Demokratie unter Führung der MSPD Tritt, da sie den Pakt mit dem alten Heer geschlossen hatte, dessen neuer Chef Wilhelm Groener sich zur Republik bekannte. Was hätten die Mehrheitssozialdemokraten auch anderes tun können, wollten sie der »große[n] Drohung […], die 1918 über Deutschland hing«,[9] begegnen? Der linksliberale Hugo Preuß, der die Weimarer Reichsverfassung entwarf, brachte auf den Punkt, um was es ging: »Die Wahl ist Lenin oder Wilson.«[10] Und diese Wahl konnte nur mithilfe des Heeres entschieden werden, zumal auf der Seite der Linken nicht nur bewaffnete Arbeiter standen, sondern auch reguläre Marineeinheiten. Ein wichtiger Grund für das Bündnis mit dem Heer war für die führenden Mehrheitssozialdemokraten – allen voran für Friedrich Ebert, den Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten und baldigen Reichspräsidenten – außerdem das Ziel, die Millionen Kriegsheimkehrer in den neuen Staat »mitzunehmen«. So gelang es, dass am 19. Januar 1919 eine Nationalversammlung gewählt werden konnte, die dann wegen des Spartakistenaufstands in der Reichshauptstadt ins abgelegene Weimar einberufen werden musste.

Die Wahl war eine Sternstunde der Demokratie in Deutschland, handelte es sich doch um die erste freie, gleiche und geheime Abstimmung im Lande, an der jetzt auch Frauen teilnehmen durften. Die sogenannte Weimarer Koalition aus MSPD, der katholischen Zentrumspartei und liberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP), die die Regierung stellen sollte, erreichte dabei 76,2 Prozent der abgegebenen Stimmen. 37,9 Prozent davon entfielen auf die MSPD. Die Kräfte der Reaktion waren vernichtend geschlagen. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) erhielt gerade einmal 10,3 Prozent. Die Deutsche Volkspartei (DVP) 4,4 Prozent. Die USPD kam auf 7,6 Prozent der Stimmen. Es war dies ein beeindruckendes Zeugnis der Deutschen für eine demokratisch-republikanische und damit friedfertige Zukunft ihres Landes, ein Zeugnis aus der Geburtsstunde der deutschen Demokratie, das heute nahezu in Vergessenheit geraten ist.

Doch diese friedfertige Zukunft war den Deutschen nicht vergönnt. Die radikalen Revolutionäre, die sich zum Jahreswechsel 1918/19 mit Teilen der USPD zur KPD zusammenschlossen und sich als Vorhut der von Moskau ausgerufenen proletarischen Weltrevolution ansahen, ließen nichts unversucht, diese jetzt auch in Deutschland zu entfachen. Sie waren hierbei schon seit dem Herbst aus der russischen Botschaft in Berlin unterstützt worden, worauf die Reichsregierung die diplomatischen Beziehungen zu Moskau abgebrochen hatte. Mit dem beginnenden Frühjahr 1919 dauerten in der Hauptstadt die revolutionären Unruhen an. Im März kam es in Berlin zu Kämpfen. Doch es gelang der durch Freikorpsverbände verstärkten Reichswehr, die Spartakisten ein weiteres Mal niederzuwerfen. Das änderte jedoch nichts daran, dass in fast zwanzig Städten über ganz Deutschland verteilt Räte die Macht übernahmen. Begeistert telegrafierte Grigori J. Sinowjew, der Vorsitzende des Exekutivausschusses der Kommunistischen Internationale (Komintern), nach München, wo sowjettreue Revolutionäre die Macht übernommen hatten, dass nunmehr »drei Sowjetrepubliken [existieren]: Russland, Ungarn und Bayern«. Und er fügte noch hinzu, dass in einem Jahr Europa kommunistisch sein werde.[11] Lenin richtete eine Grußbotschaft an die Führer der Räterepublik und bat darum, informiert zu werden, »welche Maßnahmen sie zum Kampf gegen die bürgerlichen Henker Scheidemann und Co. durchgeführt haben«.[12]

Die Angst ging seitdem in der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland um, die Angst vor den »russischen Verhältnissen«, also vor nie da gewesener Gewalt und Grausamkeit, wie man es vom russischen Bürgerkrieg immer wieder hörte. Ein düsteres Bild der Zukunft breitete sich aus. Pessimismus überall. Der in Berlin lebende russische Publizist Elias Hurwicz analysierte damals, es überwiege in Deutschland das Gefühl, der Bolschewismus sei ...