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Das Kassenbuch
Am achten Tag ihrer Überfahrt holte Jean ein neues rotes Kassenbuch aus seiner Aktentasche und legte es vor sich auf den Tisch. Es war der 23. Februar 1937, sie saßen in der Bordbibliothek der Madrid, des »komfortabelsten Postschiffs der Norddeutschen Werften«, wie Eugenia ihm den frisch überholten Transportfrachter der Lloyd-Linie noch in Paris angepriesen hatte. Dieses Postschiff war spartanisch eingerichtet, kein Vergleich zu den englischen Ozeandampfern, auf denen Jean sich im vorletzten Sommer von Le Havre nach New York eingeschifft hatte, doch immerhin durfte hier bei den Deutschen eine kleine Bibliothek mit langem Schreibtisch nicht fehlen.
Er schraubte seine Füllfeder auf, sog sie mit Tinte aus Eugenias Tintenglas voll und kritzelte ein paar Probekringel auf das hellbeige Seidenpapier, in das das Kassenbuch eingepackt war. Dann enthüllte er es vorsichtig, öffnete den Buchdeckel, schlug die Vorsatzpapiere um, falzte sie mit einem Kniff seiner Linken und setzte diese drei Sätze auf die erste Seite: »Ich heiße Jean-Michel Frank. Das Michel können Sie vergessen, nach dem Erzengel hat mich nie jemand gerufen. Was für eine Idee auch, in einer jüdischen Familie!«
Er betrachtete das Blatt einen langen Moment. Er hatte gar nicht nachgedacht, was er da schrieb, denn er war Schreiben nicht gewohnt, die drei Sätze hatten wohl in der Luft gehangen, und nun standen sie, aufs Papier geworfen, schwarz auf weiß vor ihm. Seine Identität las man im ersten Satz, doch gleich danach stellte er sie infrage.
War er etwa ein Persönlichkeitsgespaltener? Ein Frühdementer, wie die Ärzte neuerdings die nannten, die sich in mehreren Lebenslinien verirrten?
René hatte ihn seit jeher dazu gemacht. »Wer weiß, wer Jean wirklich ist?«, war eine seiner Standardfragen gewesen, oder: »Wo hocken Jeans Schatten?«
Jedenfalls, das stand außer Frage, war er ein perfekter Fall für Professor Binswanger, den großen Freud-Schüler. Und er wusste das seit Jahren. Genauer gesagt seit Renés Tod.
René hatte er zu Binswanger in die Bellevue Klinik hoch über dem Bodensee geschickt, in dieselbe Klinik, in die er auch seine Mutter hatte einliefern müssen. Nur konnte selbst eine Koryphäe nicht alle Patienten retten. Seine Mutter, die an einer vehement fortschreitenden Demenz gelitten hatte, war schließlich im sanften Wahn aus dem Leben gesegelt. René hingegen, dem Binswanger eine bipolare Depression attestiert hatte, saß trotz dessen jahrelanger Mühen eines Tages noch blutjung, aber tot in der Küche einer muffigen Mansarde in der Rue de Beaune.
Wie würde Jean selbst enden?
Eine gute Frage, die er aufschreiben könnte. Er hatte Zeit hier auf dem Schiff. Er hatte nichts zu tun, und es schrieb sich herrlich auf dem samtigen, schlammfarben linierten Canson®-Papier unter seinen Händen, das durch drei rote senkrechte Tabellarstriche in vier ungleichmäßige Felder geteilt war. Jean schraubte die Füllfeder zu, legte sie neben das Kassenbuch und strich mit den Fingerspitzen seiner Rechten über die erste Seite. Das Papier erzeugte einen klitzekleinen Widerstand auf der Haut, einen Widerstand, den man als Vibration bis in den Nacken spüren konnte. Sein Blick ruhte auf den drei schwungvoll geschriebenen Sätzen, zu seiner Überraschung sah seine Handschrift ganz passabel aus.