2.
Der Fortschritt als Fessel
1789–1830
Einen«herrlichen Sonnenaufgang» hat Hegel in seinen Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte die Französische Revolution genannt.«Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.»
Im letzten Jahrzehnt seines Lebens rief Hegel damit seinen Zuhörern ins Bewußtsein, was er und seine Freunde Hölderlin und Schelling als Studenten am Tübinger Stift empfunden hatten, als sie von der Erstürmung der Bastille, dem großen Ereignis des 14. Juli 1789, erfuhren.«Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt, und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß derνοῦς (nus: Geist, Gedanke, Vernunft; H.A.W.) die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle.»[1]
Die Gedanken, die in Frankreich an die Macht gelangten, waren in Deutschland wohlbekannt. Montesquieu und Rousseau gehörten zu den am meisten gelesenen und gefeierten Autoren im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wer aufgeklärt war, haßte den Despotismus und schwor auf die Teilung der Gewalten und die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, auf dem alle Staatsgewalt beruhe. Weil im Frankreich des Ancien régime nach gängiger Meinung ein unaufgeklärter Absolutismus, also der Despotismus, herrschte, war das Land im Recht, als es sich auflehnte. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung am 26. August 1789 fand in Deutschland wie fastüberall in Europa begeisterte Zustimmung. Doch als ein Vorbild für das, was rechts des Rheins geschehen sollte, wurden die französischen Ereignisse von den wenigsten deutschen Beobachtern gewertet. Dazu war in den wichtigsten Staaten Deutschlands der Absolutismus zu aufgeklärt, als daß es einer gewaltsamen Volkserhebung bedurft hätte, um Besserung zu bewirken. Der Weg der friedlichen Reform (oder, wie es oft hieß, der«Reformation») galt als der deutsche Weg zur Erreichung der Ziele, die die Franzosen durch eine Revolution zu verwirklichen trachteten.[2]
Für die Reform sprach in den Augen aufgeklärter Deutscher aber auch der Verlauf, den die Französische Revolution nahm. Lange bevor die Jakobiner ihre Schreckensherrschaft errichteten, schwenkte dieöffentliche Meinung Deutschlands um: Die Bewunderung des westlichen Nachbarn wich der Kritik an der Art und Weise, wie er den politischen Fortschritt erzwingen wollte. Christoph Martin Wieland, einer der scharfsinnigsten und einflußreichsten Publizisten der Zeit und ein früher Sympathisant der Revolution, rügte schon im Oktober 1789 die Entmachtung des Königs, weil sie mit dem gehörigen Gleichgewicht der gesetzgebenden, der richterlichen und d