: Jelena Zumbach, Bärbel Lübbehüsen, Renate Volbert, Peter Wetzels
: Psychologische Diagnostik in familienrechtlichen Verfahren
: Hogrefe Verlag GmbH& Co. KG
: 9783840930232
: 1
: CHF 19.50
:
: Psychologie
: German
: 147
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Gerichtsverfahren nach Trennung und Scheidung von Eltern (Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahren) und Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge wegen Kindeswohlgefährdung machen kindeswohlorientierte Entscheidungen notwendig, für die eine psychologische Expertise häufig unabdingbar ist. Dieses Buch liefert einen strukturierten Überblick über das psychologisch-diagnostische Vorgehen im Rahmen der familienrechtspsychologischen Begutachtung. Nach einer Einführung in relevante Fallkonstellationen, Rechtsnormen und Begriffsbestimmungen wird ein Überblick über den psychologisch-diagnostischen Prozess in familienrechtlichen Verfahren gegeben. Es wird dargelegt, wie juristische Fragestellungen in fallspezifische psychologische Fragestellungen überführt werden, die den Begutachtungsprozess bestimmen und strukturieren. Darauf aufbauend wird die systematische Ableitung eines Untersuchungsplans demonstriert, und zentrale diagnostische Bausteine wie Explorationsgespräche, Verhaltensbeobachtung, psychometrische Testverfahren und Fremdanamnese werden unter Bezugnahme auf aktuelle empirische Befunde im Detail erörtert. Im nächsten Schritt wird die Systematisierung der diagnostischen Ergebnisse und deren Bewertung und Gewichtung vor dem Hintergrund rechtspsychologischer Prüfkriterien erläutert. Es folgen Ausführungen zur Herleitung der kindeswohlorientierten Einschätzung und der Beantwortung der gerichtlichen Fragestellungen. Das Buch schließt mit einem Überblick über Qualitätsanforderungen, Mindeststandards und berufsethische Aspekte. In allen Kapiteln des Bandes werden Anwendungsbeispiele zu den einzelnen Arbeitsschritten präsentiert, die auf Fällen aus der eigenen gutachterlichen Praxis basieren und die veranschaulichen, wie die theoretischen Ausführungen in praktische Anwendungen münden.
2 Fallkonstellationen, rechtliche Grundlagen und Begriffsbestimmungen

Familienrechtliche Verfahren, in denen es zu psychologischen Begutachtungen kommt, betreffen hauptsächlich Fragestellungen bezüglich der elterlichen Sorge (gemäß § 1626 und § 1671 BGB), des persönlichen Umgangs (gemäß §§ 1684, 1685 BGB) und des Entzugs der elterlichen Sorge (gemäß § 1666 BGB). Ein zuständiges Gericht beauftragt hier psychologische Sachverständige, um für die richterliche Entscheidungsfindung notwendige sachkundige Informationen zu erhalten und eine kindeswohlorientierte Entscheidung vorzubereiten. Die aus den Sachverhaltsfeststellungen zu ziehenden Konsequenzen obliegen dem Gericht (vgl. Dettenborn& Walter, 2016; Salzgeber, 2015; Zumbach, 2017).

Der rechtliche Maßstab in allen familienrechtlichen Verfahren ist dabei das Kindeswohl, als auslegungsbedürftiger, unbestimmter Rechtsbegriff (vgl. § 1697a BGB). In der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989 wird in Artikel 3 das Wohl des Kindes als ein Gesichtspunkt festgelegt, der bei allen staatlichen und behördlichen Entscheidungen, Eingriffen und Maßnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen ist. Das Grundgesetz liefert zentrale normative Bezugspunkte für die Konkretisierung des Kindeswohlbegriffs. So sind Kinder als Grundrechtsträger Personen mit eigener Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), mit dem Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Recht auf Schutz ihres Eigentums und Vermögens (Art. 14 Abs. 1 GG).

Der Kindeswohlbegriff gilt als herausragende familienrechtliche Verfahrensleitlinie. Hierbei wird das Kindeswohl teils als Generalklausel und teils als unbestimmter und wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriff bezeichnet, der nicht allgemeingültig festgelegt ist und im Einzelfall präzisiert werden muss (vgl. Balloff, 2018). Der juristische Grundgedanke des Kindeswohls wird in § 1 Abs. 1 SGB VIII formuliert: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Auch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich auf Schutz und Förderung als wesentliche Kriterien des Kindeswohls und beschreibt die Verantwortung der Eltern darin, Umstände zu schaffen, in denen sich das Kind zu einer „eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln“ kann (BVerfG, NJW 1968, 2233, 2235). Neben dem gegenwärtigen Schutz vor Gefahren begründet der Bezug auf die Entwicklungserfordernisse des Kindes auch eine Zukunftsorientierung des Kindeswohlbegriffs. „Das aus den Grundrechten abzuleitende Kindeswohl umfasst daher nicht nur den Ist- Zustand des Kindes oder der/des Jugendlichen, sondern auch den Prozess der Entwicklung zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit“ (Schmid& Meysen, 2006, S. 2 – 2).

Damit rekurrieren juristische Definitionen auf primär psychologische Konstrukte, wie die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern oder Jugendlichen. Problematisch ist, dass der Kindeswohlbegriff aus psychologischer Perspektive bislang nur unzureichend empirisch gefüllt wurde und für das Kindeswohl als latentes Konstrukt durchaus Divergenzen hinsichtlich der psychologischen Definition und Operationalisierung (Messbarmachung durch beobachtbare Indikatoren) bestehen.

In der deutschsprachigen familienrechtspsychologischen Literatur findet sich eine Definition bzw. Operationalisierung des Kindeswohlbegriffs durch Dettenborn und Walter (2016): Unter familienrechtspsychologischen Aspekten definieren diese das Kindeswohl als „die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen“. Hierbei werden „Bedürfnisse“ als Entwicklungserfordernisse definiert, „günstig“ meint, „wenn die Lebensbedingungen die Befriedigung der Bedürfnisse insoweit ermöglichen, dass die sozialen und altersgemäßen Durchschnittserwartungen an körperliche, seelische und geistige Entwicklung erfüllt werden“ (S. 70 f.). Individuelle Entwicklungserfordernisse eines konkreten Kindes sollten jedoch ebenso miteinbezogen werden (vgl. Abbildung 1).
Inhaltsverzeichnis und Vorwort7
1 Familienrechtspsychologie und Sachverständigentätigkeit in familienrechtlichen Verfahren11
2 Fallkonstellationen, rechtliche Grundlagen und Begriffsbestimmungen13
2.1Rechtsnormen15
2.2Kindeswohlgefährdung, Sorgerechtsentzug und Rückführung18
2.3Sorgerechtliche Fragen nach Elterntrennung21
2.4 Umgangsrechtliche Fragen nach Elterntrennung23
2.5Positive und negative Kindeswohlprüfung sowie Gefährdungsabgrenzung24
3Der psychologisch-diagnostische Prozess in familienrechtlichen Verfahren26
3.1Überblick des psychologisch-diagnostischen Prozesses26
3.2 Konstruktspezifikationen und Überführung juristischer Fragen in psychologisch-diagnostische Fragestellungen28
3.3Erstellung des einzelfallbezogenen Untersuchungsplans auf Basis der psychologischen Fragestellungen33
4Zentrale diagnostische Bausteine in der familienrechtlichen Begutachtung38
4.1 Diagnostische Interviews: Anamnese- und Explorationsgespräche39
4.2Verhaltensbeobachtung48
4.3Testdiagnostik79
4.4 Diagnostik von Psychopathologie und Grenzen der Diagnostik im Rahmen der Begutachtung99
4.5Gespräche mit beteiligten Fachkräften und Einholung fremdanamnestischer Angaben102
4.6Gespräche mit weiteren Familienangehörigen102
4.7Hausbesuche103
4.8 Gemeinsame Elterngespräche und Hinwirken auf Einvernehmen104
5Bewertung der diagnostischen Einzelbefunde und Gutachtenerstellung107
5.1 Systematisierung der diagnostischen Ergebnisse und Vorbereitung der schriftlichen Gutachtenerstellung107
5.2Bewertung der Ergebnisse und Beantwortung der psychologischen Fragestellungen111
5.3 Ableitung der kindeswohlorientierten Einschätzung und Beantwortung der gerichtlichen Fragestellungen unter Berücksichtigung empirischer Befunde und ihrer Grenzen115
6 Qualitätsanforderungen, Mindeststandards und berufsethische Aspekte130
Literatur134