: Hans Wollschläger
: Karl May Grundriß eines gebrochenen Lebens
: Wallstein Verlag
: 9783835345041
: 1
: CHF 21.30
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: Biographien, Autobiographien
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die legendäre Karl-May-Biographie von Hans Wollschläger - ein Klassiker des Genres. Bis Mitte der sechziger Jahre war der Name Karl May nur noch durch die kommerzielle Ausschlachtung als 'Jugend- und Volksschriftsteller' wahrnehmbar. Dies änderte sich 1965 mit dem Erscheinen von Hans Wollschlägers biographischer Pionierarbeit, in der die abenteuerliche Existenz des Großschriftstellers May in eindrucksvoller Detailfülle geschildert wird. Direkt aus den Quellen rekonstruiert Wollschläger in dieser mittlerweile zum Klassiker avancierten Biographie den bizarren Lebensweg eines Außenseiters, der wegen seines schwachen Realitätssinns immer wieder in verhängnisvolle Konfrontationen mit seiner sozialen Umwelt geriet - sei es mit skrupellosen Verlegern oder mit parteilicher Justiz und Publizistik. Der brillante Stil und die beeindruckende Sprachmächtigkeit Wollschlägers wurden seinerzeit selbst vom gestrengen Arno Schmidt gelobt, der die Biographie nicht zuletzt auch wegen der 'ununterdrückbaren Fähigkeit des Verfassers zu eleganten Formulierungen' dringend empfahl. In ihrer Exaktheit und Zuverlässigkeit ist diese lange vergriffene 'Gründungsurkunde der neueren Karl-May Forschung' auch heute noch unentbehrliche Lektüre für alle, die sich mit May ernsthaft beschäftigen möchten.

Hans Wollschläger (1935-2007) war Übersetzer (u. a. James Joyce 'Ulysses'), Schriftsteller, Historiker, Religionskritiker, Rhetor, Essayist und Literarhistoriker. Er erhielt neben vielen anderen Auszeichnungen 1982 den erstmals vergebenen Arno-Schmidt-Preis. Posthum wurde ihm 2007 der August-Graf-von-Platen-Preis der Stadt Ansbach verliehen. Die Schriften von Hans Wollschläger liegen in einer Werkausgabe in zwölf Bänden im Wallstein Verlag vor.

Kapitel I


Ussulistan


Schon einer der Urahnen in der siebenten Vorgeneration, Andreas Stephan (1666–1719), war Webermeister in Ernstthal; Weber waren fast alle Vor- und Vorvoreltern; Weber war der Vater[1]. Von ihrem Dahinleben ist wenig aufbewahrt; selten währte es siebzig Jahre, oft sehr viel kürzer, und daß es köstlich gewesen wäre, ist so sicher nicht, wie es der plaudernde Feinsinn gern der pausenlosen Arbeit nachsagt; – ein paar trockene Sätze im Kirchenbuch, keine Briefe, keine Bilder. Zuletzt bleiben von ihnen allen nur die eckigen Daten ihres Auftritts und Abgangs von der tristen Bretterbühne, auf der das immer gleiche vor sich ging: Intraden ohne Glanz – die dürftige Dorfpantomime immer stummer Rollen, deren letzte Hantierung noch vom grau sausenden Webstuhl bestimmt ist – Exit ins Dunkel. Das Erbe, das aus solchen Generationen auf den Letzten der Familie sich ablagerte, wiegt schwer, und wenn er sich später auch empört dagegen verwahrte, daß man ihnatavistischer Schwachheiten[2] zeihe, so erklärt sich doch so manche Bruchstelle im wunderlichen Gewebe seines Lebens aus der trüben Provenienz der Fäden, die darin zusammenliefen: nicht nur die Revolution des Unteren, die in ihm heraufkam; das verkrüppelte Rechtsbild der vom Recht sehr lange Vergessenen; – auch der gestaute Kräfteschub derer, die selber nichts zu stiften vermochten, was geblieben wäre; und aus der Schwermut der Vergeblichen die singuläre Anstrengung selbst, die sie durchbrach und aufhob. So hat er das Muster, wie es, mit durchaus schlimmen Vorzeichnungen, auf ihn kam, dann doch zum guten Ende gebracht, und aus dem langen, öden Vorgang der von Tritten geregten, endlos ungesehen geflossenen Fäden, der von Schlägen geschlagenen Verbindungen, der herüber und hinüber schießenden Schifflein ist noch so etwas wie ein Weber-Meisterstück gekommen – ein bizarres, misch-maschiges, knotig bedeutendes aber doch im desolaten Dessin – und er selbst im besten Sinne der Letzte seines Stammes geworden:Ijar, der im ganzen Morgenlande bekannte Teppichweber …[3]

 

Ernstthal, eine kleine Stadt in der sächsischen Kreisdirektion Zwickau, 1680 nach einer Pestepidemie zu Hohenstein gegründet, mit dem es später (1898) zusammengelegt wurde, ist ein Modellpunkt des sozialen Elends der Zeit: in dessen tiefsten Stand,ins ärmste, schmutzigste Ardistan, wird Karl Friedrich May am 25.2.1842, abends um 10 Uhr, in der Niedergasse[4] hineingeboren: fünftes von 14 Kindern, die die Mutter Christiane Wilhelmine Weise (1817–1885) zwischen dem 19. und 43. Jahr dem Heinrich August May (1810–1888) gebären muß; neun davon sterben in frühester Kindheit, nur zwei Schwestern haben den Bruder überlebt und ein hohes Alter erreicht. Von den 2630 Einwohnern ernähren sich 80 % von der Heimweberei, die seit der Blütezeit zu Beginn des Jahrhunderts unaufhaltsam niedergegangen ist und zum Existenzminimum jetzt wenig über ein Drittel beiträgt; ›Nebenberufe‹ müssen aushelfen, Schmuggel und anderes; in Scharen verlassen Auswanderer die kümmerliche Heimat, hinüber ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten; die öffentlichen Einrichtungen, etwa das Schulwesen, sind durch Schulden in Unordnung; 84 Haushalte zählt 1845 eine Akte zu den Ärmsten der Armen.[5] Mangelkrankheiten bestimmen Leben und Sterben: das,was man gegenwärtig diskret als ›Unterernährung‹ zu bezeichnen pflegt, ist wohl auch Ursache für die Erblindung des Kindes kurz nach der Geburt; sie wird erst, lange von törichten Kuren verpfuscht, im 5. Lebensjahr durch Eingreifen Dresdener Ärzte behoben.[6] Bei schimmligen Brötchen, Unkrautsuppe und Kartoffelschalenabsud gedeiht nich