: Gerald Rauscher
: Kein Zeichen, kein Wunder Rolf Hochhuth über Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf
: Books on Demand
: 9783751966726
: 1
: CHF 5.60
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 164
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der am 13. Mai 2020 mit 89 Jahren verstorbene politische Schriftsteller Rolf Hochhuth lässt keinen seiner Leser neutral. Das Spektrum der Reaktionen reicht regelmäßig von «Hosianna» bis «Kreuziget ihn». Kein anderer Autor hat seine «Empörung über Unrecht und Leidenschaft für das Gute» (Gert Ueding) so kompromisslos zu Papier gebracht wie er. Die Monographie unternimmt einen triadischen Streifzug durch das Gesamtwerk Hochhuths: die wesentlichen Aussagen über Religion, Geschichte und Moral werden mit viel Sorgfalt zusammengetragen und erläutert. Das abschließende Gespräch mit dem Schriftsteller rundet das Bild mit überraschenden und ergänzenden Erkenntnissen ab.

Der Österreicher Gerald Rauscher ist Autor der Gedichtbände"Rückwärts rudern" (2002) und"Wenn der Schnee reift" (2020).

Kapitel 2


‚Geschichte ist, was uns mißglückt‘ –
Hochhuth und die Historie


„Rolf Hochhuth ist ein Geschichtsfälscher“119. So beginnt Hayo Matthiesen den ‚Zeit‘-Artikel ‚Das Elend, Hochhuth und die CDU‘ und gibt dieserart die Meinung vieler Zeitgenossen, nicht aber die seine, wieder. Hochhuth hat in seinem Stück ‚Die Hebamme‘ behauptet, daß in einem Kieler Obdachlosen-Lager 193 Menschen sicheine Wasserzapfstelle teilen und daß die Stadt Kiel in zwölf Jahren nur vier Millionen Mark für Obdachlose ausgegeben hat. Der Kieler CDU-Vorsitzende Wolfgang Hochheim dementiert, so Matthiesen, denn richtig sei vielmehr, daß für 198 Insassensechs Zapfstellen zur Verfügung stehen, und Kiel 3,8 Millionen in zwölf Jahrennur für Investitionen aufgebracht hat. – Um geschichtliche Wahrheit und Fälschung auseinanderhalten zu können, lohnt sich denn ein genauerer Blick in die Materie Hochhuth.

2.1 Das Dokument als Wahrheitsattrappe


Unter dem Stichwort ‚Hochhuth, Rolf‘ wird man vom Theaterlexikon120 verwiesen auf zwei – wie es scheint – synonyme Stichwörter: ‚Doku mentarisches Theater‘ und ‚Skandal‘. Dieser Hochhuth scheint also wohl der erste121 und letzte122 Stückeschreiber jener Zunft zu sein, die durch die dokumentarische Verwendung von historischen Quellen – sprich von „unmittelbarem Sprachmaterial“123 – Skandale zu bewirken vermag. Weshalb Hochhuth, zumindest von seiner Wirkung her, eigentlich zu den Absurden gezählt werden müßte. Denn so lange etwas geschieht in der Menschen geschichte, und sei es das Barbarischste, geschieht es beinahe ungehindert unter dem Schutzmantel des Faktischen. Erst als montierte Wiederholung löst das Geschehene Wirkung aus: Wogen der Empörung etwa über die Niederträchtigkeiten, die Hochhuth dem Papst in den Mund zu legen wagt. Der Autor geht her und weist diese lapidar als wortwörtliche Zitate aus dieser und jener Enzyklika nach. Aber damit nicht genug. Hochhuth macht nicht nur die gescheheneschlechte Geschichte zum Thema, sondern auch die ungeschehenebessere. Das, was hätte sein können, ja sein müssen, soll durch die Darstellung entweder des unerträglichen Realen ex negativo (vgl. z. B. ‚Der Stellvertreter‘, ‚Soldaten‘) oder einer passablen Möglichkeitsform explizite (vgl. z. B. ‚Guerillas‘, ‚Judith‘) zur Diskussion gestellt werden. Eine zentrale Aufgabe von Literatur sieht der Autor in der Simulation von sozialen Extrem situationen, so „daß dem Leben erspart bleibt, sie ebenso auf die Spitze zu treiben.“124 Die Hochhuthsche Laterna magica benutzt die Katastrophe des Wirklichen, die immer von Menschen angerichtet wird, als Kontrastfolie zu einer utopischen Form des Erträglichen.

Nicht aus nachträglicher Besserwisserei – kein anderer Autor versetzt sich so realistisch, mit solch forscherischem Aufwand in den Zeithorizont seiner Figuren –, sondern aus ernstgemeinter Identifikation heraus will Hochhuth das geschichtliche Terrain noch einmal abschreiten, das Ganze erneut szenisch durchspielen, ohne natürlich den zeitlichen Vorsprung des Heutigen auf zugeben. Für den Betrachter bedeutet dieser Vorsprung lediglich zu wissen, wie die Geschichte ausgeht, nicht aber, was der Autor mit einem vorhat. Der diachronistische Graben zwischen geschichtlichem Stoff und dokumentierendem Autor stellt die Bedingungsmöglichkeit dar für eine je in Relation zu einer Gegenwart stehende tragische Gestaltung. Um Geschichte existentiell – und das heißt immer: für gegenwärtige Menschen – berührend zu gestalten, muß diese auf geeignete Art und Weise problematisiert werden. Die Formulierung dieser Destination borgt der Eschweger bei Max Rychner: „Ge schichtliche Dichtung soll Gegenwart hergeben und gründen helfen.“125 Mit der planen Verwendung von Stoffen, Ereignissen und Jahreszahlen ist diesem Anspruch nicht Genüge getan. Denn Hochhuths Stücke wollen keine ennuyierende Aufzählung sein, sondern aufrüttelnde Abrechnung.

Menschengeschichte, wie sie war und ist, ist das Skandalöse. Dies zu demonstrieren, ist Hochhuth jedes literarische Mittel recht. Nur daß für einen großen Teil des Publikums gerade nicht das Geschehene, sondern dessen Darsteller selbst sich als unzumutbar erweist – wie man einst den Überbringer schlechter Nachrichten hinzurichten pflegte –, dieses kuriose Phänomen hat den Autor von seinem ersten Werk an verfolgt.

Hochhuth, „das Wissensmonster mit Vorliebe für Geschichte“126, erhält die historische Taufe noch während seiner Zeit am Realgymnasium, das er bereits 1948 für die Schriftstellerei verläßt. Zu erwähnen sind hier sein Geschichts lehrer, Josef Müller-Fleissen, der ihn für die Antike aber auch für die moderne Literatur begeistern kann, sowie der Historiker und Architekt Ernst Wenzel. Hochhuths Arbeitskollege während seiner Lektortätigkeit bei Bertelsmann in Gütersloh, Herbert Reinoß, schildert, nicht frei von Ressentiment, Hochhuths „auffallende physische und geistige Flinkheit“ sowie seine „humorige Scharf züngigkeit“127. Was die Herkunft Hochhuths tief pessimistischen Menschen- und Weltbildes betrifft, so gibt uns Reinoß aufschlußreiche Hinweise: „Ge schichte ist bekanntermaßen sein zentrales Thema, immer wieder Geschichte […]. Ich erinnere mich an seine Äußerung, daß er früh,allzu früh, in Geschichtsbüchern von jenen altorientalischen Despoten gelesen habe, die den Besiegten die Köpfe abschlugen und die Frauen und Kinder unter die Soldaten verteilten. So wurde er auf die Schicksale von Menschen gestoßen, die einer äußersten Brutalität ausgeliefert sind. In Alt-Babylon, Alt-Samarkand, Auschwitz und so fort. Der Mensch zu allen Zeiten des Menschen Wolf. Kann man das je aus der Welt bekommen? Oder ist es im unveränderbaren Sosein des Menschen begründet? Er scheint an Letzteres zu glauben: Der Mensch wird sich niemals ändern.“128

2.2 Der Ursprung der Tragödie aus dem Grauen vor Gewalt


Die sisyphushafte Mühsal, uns Heutigen die Gegenwart vergangener Menschen näherzubringen, umfaßt mehr als nur die penible Aneinanderreihung von Geschehnissen. Es ist die Kunst, durch bannendes Erzählen Atmosphäre zu schaffen, den Jahreszahlen – mit Walter Benjamin gesprochen – ihre Physiognomie zu geben. Bereits in Hochhuths Debüt 1959 mit dem Prosastück ‚Resignation oder die Geschichte einer Ehe‘ – von seinen literarischen Gehversuchen wie ‚Inventur‘ oder ‚Victoriastraße 4‘ einmal abgesehen –, welches 1974 in einer erweiterten Fassung unter dem Titel ‚Zwischenspiel in Baden-Baden‘ erscheint, offenbart sich Hochhuths literarische Quelle, „die schaudervollste Vaterfigur, die denkbar ist: Mein Vater heißt Hitler. Für mich, den ehemaligen Pimpf in Hitlers ‚Jungvolk‘, den Schwiegersohn einer von Hitler Enthaupteten, den jugendlichen Augenzeugen vom Abtransport der Juden – für mich liegt die Auseinandersetzung mit Hitler allem zugrunde, was ich schrieb und schreibe.“129

Im selben Jahr beginnt Hochhuth während eines dreimonatigen Urlaubs die Nachforschungen für den ‚Stellvertreter‘ vor Ort in Rom. Die Ausgangssituation: Der Antijudaismus der katholischen Kirche gipfelt in der Lethargie Pius‘ XII. angesichts der massenweisen Deportation und Ermordung von Juden – selbst vor den Toren des Vatikans. ‚Der Stellvertreter‘ bewirkt einen epochalen Ruck in den Köpfen einer ganzen Nation, ihm ist es zu verdanken, „daß auf dem bundesrepublikanischen Theater Politik wieder zum Thema und die Phase fast zwanzigjähriger Verdrängung der faschistischen Vergangenheit überwunden wurde.“130 Allein dieses Erstlingsstück löst international eine derart gigantische Reaktionsflut aus, daß es eine fahrlässige Untertreibung Hochhuths zu sein scheint, wenn er den Schriftsteller als „Wirkungslosigkeit in Person“131 bezeichnet. Wo doch schon Heinrich Böll seinem Kollegen zugestand: „Im ‚Stellvertreter‘, in den ‚Soldaten‘ hat Hochhuth die Geschichte, hat er die Historiker herausgefordert, mutig sich den Fluten der Archive gestellt, Kontroversen bis ins letzte irische Dorf verursacht“132.

In einem fünfzigseitigen Anhang zu dem ‚christlichen Trauerspiel‘, den ‚Historischen Streiflichtern‘, gibt er, was in dieser Ausführlichkeit ein Novum darstellt, Einblick in das Zustandekommen des Stücks. Daß er so gut wie alle einschlägigen Biographien, Tagebücher, Gerichtsprotokolle usw. studiert hat, soweit sie zugänglich sind, ist für Hochhuth eine Selbstverständlichkeit. Der Dichter...