1 Der »Chefchen-Skandal«
Januar 2011: Trainer Louis van Gaal hat seinen einstigen Aggressiv-Leader und Landsmann Mark van Bommel nach der Winterpause zum Teufel gejagt, der in diesem Fall der AC Mailand ist. Philipp Lahm übernimmt die Kapitänsbinde des Holländers, zum Stellvertreter benennt van Gaal Schweinsteiger; eine Entscheidung, die für mich zu diesem Zeitpunkt ein wenig überraschend kommt. In seiner direkten Art hatte mir van Gaal zuvor ganz offen gesagt, dass er Schweinsteiger innerhalb der Mannschaft als introvertiert erlebe. Der Spieler sei viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, komme erst kurz vor dem Mannschaftstreffpunkt und sei nach dem Training schnell wieder raus aus der Kabine. Trotzdem nahm er Schweinsteiger in die Pflicht. Auch wiederum ganz typisch van Gaal. Den Schnitt in der Teamhierarchie spiegelt auch die sportlich unzufriedene Situation im Klub wider. Im Vorjahr gewann der FC Bayern noch das Double, erreichte zudem das Champions-League-Finale in Madrid. Nun läuft es in der Meisterschaft nicht. Der Titelverteidiger schied im März im DFB-Pokal-Halbfinale gegen Schalke aus, kurz darauf stürzt der Klub in der Liga auf Platz vier ab, was die für den FC Bayern finanziell so wichtige Teilnahme an der Champions League gefährdet. Van Gaal erreicht seine Mannschaft nicht mehr, und seine neuen Kapitäne bekommen sie ebenfalls nicht so schnell in den Griff. Lahm bringt Lahm-typisch zumindest auf dem Rasen wie immer solide seine Leistung, ohne große Formschwankungen. Anders als Schweinsteiger.
Bastian wirkt ein wenig überfordert in der neuen Rolle, will zu viel. Viel mehr als Lahm ist er als zentraler Mittelfeldspieler, zu dem ihn van Gaal geformt hat, für die Struktur und das Tempo des Bayern-Spiels verantwortlich. Er ist der Ballverteiler, das Herz der Mannschaft. Doch dieses Herz schlägt aktuell nicht im Takt. Dabei fehlt es ihm nicht an Einsatz, ganz im Gegenteil: Statt dem Bayern-Spiel eine Linie zu verpassen, reibt sich Schweinsteiger in Zweikämpfen auf. Öffentlich stärkt van Gaal seinen neuen Mittelfeldchef, nachdem er den alten weggeschickt hatte: »Natürlich hatte Mark Einfluss. Aber Bastian Schweinsteiger hat mehr Einfluss auf dem Platz als Mark.«
Ich rufe kurz entschlossen Mark van Bommel, Bastis vorherigen Mittelfeldpartner, in Mailand an. Nach wenigen Klingeltönen nimmt Mark auch schon ab. »Hey, Falcao, wie geht’s?«, begrüßt er mich. Ich komme gleich zur Sache, erkläre ihm die aktuelle Situation in München, die er selbst noch gut genug kennt. Sein Abschied liegt ja nur ein paar Monate zurück. Ich frage ihn, wie er sich die Leistungsschwankungen seines einstigen Kompagnons Schweinsteiger auf der Doppel-Sechs erkläre. Der aktuelle holländische Vizeweltmeister teilt meinen Eindruck, den ich in den vergangenen Spielen bekommen habe: Ohne den erfahrenen Partner an seiner Seite kämpft Schweinsteiger mit seiner neuen Führungsrolle im Mittelfeld. Der Oberbayer war erst im Vorjahr dank van Gaal von der linken Außenbahn ins Zentrum beordert worden. Das Bayern-Spiel vor der Abwehr aufzubauen und plötzlich ohne den erfahrenen Strategen van Bommel zu ordnen überforderte ihn noch. Nach dem Telefonat mit Mark und dem Vorgespräch mit van Gaal setze ich mich an meinen Computer und tippe als Erstes die Überschrift: »Chefchen Schweini«. Harte Worte, deren Wirkung ich in diesem Moment selbst noch nicht absehe.
Der Artikel schreibt sich praktisch von selbst, gerät mir für die Verhältnisse unseres Magazins sehr lang; zu lang nach dem Geschmack der Chefredaktion. Do