: Simon Deckert
: Siebenmeilenstiefel Roman
: Rotpunktverlag
: 9783858698940
: 1
: CHF 19.80
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: Erzählende Literatur
: German
: 320
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Andrea stellt sich vor, auf dem Rücken eines Drachens über ihrem Dorf zu fliegen. Sie ist Anfang zwanzig, ihre Mutter hat die Familie vor zehn Jahren verlassen, der alkoholabhängige Vater bezieht Invalidenrente. Über solche Dinge wird zu Hause lieber geschwiegen, und Andrea erfährt am eigenen Leib: Wer über alte Geschichten nicht spricht, der wird sie auch nicht los. Für ihren Bruder Michl, der lieber Rockmusiker als ein dorfbekannter Schulversager wäre, denkt Andrea sich eine Fluchtgeschichte aus. Als sie ihren Vater und seine Schwägerin bei einem Annäherungsversuch erwischt, merkt sie: Michls Fluchtgeschichte muss auch ihre eigene werden. Zwei Tage später sitzen die Geschwister im Pick-up des Onkels und suchen das Weite. Andrea erzählt, erinnert, und sie erfindet. So auch eine kühnere Version ihrer selbst namens Ariane, die sie ermutigt, im wirklichen Leben über sich hinauszuwachsen - wenn sie sich, einmal in Basel, auf die Suche macht nach dem, was von ihrer Familie übrig ist. Und ein junger Mann namens Bastian auf dem Fahrrad um die Ecke kommt. Klug, dialogstark und mit vergnüglicher Fantasie lässt Simon Deckert uns eine Reise miterleben, die die Vergangenheit einholt und die Zukunft mit Händen greift. Ein überraschendes Debüt!

Simon Deckert, Jahrgang 1990, wuchs in Liechtenstein in einer österreichischen Familie auf und lebt heute in St.?Gallen. Nach zwei Semestern Anglistik und Philosophie wechselte er 2009 ans Schweizerische Literaturinstitut in Biel, wo er 2013 abschloss. Es folgte ein Schreibstipendium des österreichischen Ministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur in Wien. 2014-2017 absolvierte er den MA Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern. Seine Texte wurden in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht; neben dem ­Schreiben ist er als freier Lektor und Mentor sowie als Musiker tätig. 'Siebenmeilenstiefel' ist sein erster Roman.

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Der Mann mit dem Afro hat ein Geheimnis, so viel ist sicher. Fünfmal die Woche warte ich morgens vor dem Dorfladen auf den Pendlerbus, viermal beobachte ich genau dieselbe Szene. Ich lehne am Pfosten mit dem zerkratzten Haltestellenschild, hinter mir das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das Quietschen einer Tür. Der erste Bus, der ein paar Minuten vor meinem kommt, hält am Straßenrand und gibt ein ungeduldiges Schnauben von sich. Rechts von der Mitteltür sitzt der Mann mit dem Afro, am Gang, der Fensterplatz neben ihm leer – viermal die Woche auf demselben Platz. Ein paar verwahrloste Bartkrausen unter dem Ohr und am Kinn, die milchkaffeebraune Haut im Gesicht voller Muttermale, um den Hals die grünen Kopfhörer. Sein Haar ist am Hinterkopf von einem Gummiband zusammengenommen und quillt daraus hervor wie ein üppiger Blumenstrauß, wo bei anderen nur ein müder Pferdeschwanz baumelt.

Das Geheimnis könnte in der Regelmäßigkeit seines Auftauchens liegen, auch wenn es etwas geben muss, das ihn von den anderen Pendlern unterscheidet. So wäre es denkbar, dass er in einer Zeitschleife gefangen ist, in einem sich endlos wiederholenden Fluchtversuch. Jeden Morgen steigt er in den Pendlerbus und flieht so weit aus dem Dorf, wie er mit dem öffentlichen Verkehr an einem Tag kommt. Am Abend legt er sich hinter einem Heuschober schlafen oder auf der Bank von einem Haltestellenhäuschen, und wenn er am nächsten Morgen aufwacht, starrt er wieder an die Decke seines Zimmers im Dorf. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sein regelmäßiges Busfahren ein Ablenkungsmanöver darstellt, mit dem er sich hinter der Alltäglichkeit der Pendler versteckt. Das wäre einigermaßen raffiniert. Bleibt die Frage, was er zu verstecken hat. Er könnte etwa einen zweiten Kopf haben, der ihm aus dem Hinterkopf wächst und von seinem Haarschopf verdeckt wird. Wenn man das dunkle Kraushaar zur Seite schiebt, dann blickt man in ein kleines, runzliges Gesicht, das einen aus zwei wässrigen Augen etwas traurig ansieht, als wollte es sagen: Ja nun – mich überrascht nichts mehr.

Hinter mir das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das Quietschen einer Tür. Jeden Morgen kettet der dicke Tiroler, dem unser Dorfladen gehört, das Schild mit den Tagesschlagzeilen ans Treppengeländer. Montag, Dienstag, Mittwoch und Freitag: Der Mann mit dem Afro sitzt rechts von der Mitteltür. Würde sich an einem dieser Tage ein einziges Detail an der Szene verändern, etwa, wenn ich mit dem Rücken zur Straße stehen würde statt zum Laden, ich glaube, dann müsste alles im Chaos versinken. Die Kopfhörer wären blau statt grün, der zweite Pendlerbus würde vor dem ersten kommen, der dicke Tiroler würde über die Kette sto