: Marie-Hélène Lafon
: Die Annonce Roman
: Rotpunktverlag
: 9783858698933
: 1
: CHF 15.60
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: Erzählende Literatur
: German
: 180
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Paul, 46, ist Bauer in der Auvergne. Mitten im Nirgendwo, auf tausend Metern Höhe, betreibt er den familieneigenen Hof. Nur will er nicht wie seine beiden alten Onkel als Junggeselle enden und gibt eine Annonce auf. In einer tristen Industriestadt am anderen Ende Frankreichs hat Annette, 37, gerade eine gescheiterte Beziehung mit einem straffälligen Alkoholiker hinter sich. Einen Vater im Gefängnis möchte sie ihrem elfjährigen Sohn Éric nicht auch noch zumuten, und sie reißt die Annonce aus der Zeitschrift aus. Nach ersten Treffen auf halber Strecke hat Annette außer ein paar Fotos von einer unbekannten Welt besonders Pauls Hände vor Augen - Hände, die auf sie warten. Sie geht das Wagnis ein und zieht mit Éric und ein paar Möbeln aufs Land. Doch der Empfang ist frostig. Pauls sture Onkel und seine Schwester Nicole lassen die beiden Neuankömmlinge unmissverständlich spüren, dass auf dem Hof kein Platz für sie ist. Mit plastischer, rhythmischer Sprache und einem untrüglichen Gespür für Seelenzustände erzählt Marie-Hélène Lafon, wie die Ankunft der Fremden in der bäuerlichen Bergwelt allen Beteiligten etwas abverlangt - und, trotz allem, eine leise Liebe geschieht.

Marie-Hélène Lafon, geb. 1962, gehört zu den interessantensten literarischen Stimmen im heutigen Frankreich. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal in der Auvergne, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Seit vielen Jahren lebt und schreibt sie in Paris. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle.

Annette schaute in die Nacht. Sie begriff, dass sie sie nicht gekannt hatte, bevor sie nach Fridières kam. Die Nacht von Fridières senkte sich nicht, sie zog auf wie ein Sturm, ergriff die Häuser die Tiere die Leute, sie brach von überallher gleichzeitig ein, breitete sich aus, ertränkte in ihrer Tinte die Konturen der Dinge, der Körper, verschlang die Bäume, die Steine, verwischte die Wege, radierte alles aus. Die Scheinwerfer der Autos und die Straßenlampe der Gemeinde durchdrangen sie kaum, streiften sie nur, vergeblich. Sie war voll von blinden Wesenheiten, die sich kundtaten durch Geraschel Geknister Gefauche, die Nacht hatte Hände und einen Atem, sie ließ den losen Fensterladen und die schlecht verschlossene Tür schlagen, sie hatte einen abgrundtiefen Blick, der einen durch die Fenster in die Zange nahm und nicht mehr losließ, die Menschen, die in die erleuchteten Zimmer der lächerlichen Häuser geflohen, verkrochen waren. Am Anfang, im Juni, im Juli, war alles so neu gewesen in diesem verblüffenden Landstrich unter dem ungezügelten Licht, dass Annette nichts gesehen, nichts gespürt hatte. Außer an einem Abend; später im Winter, im schwärzesten Februar, hatte sie sich an jenen Montag im Juli erinnert, als das einzige richtige Gewitter dieses ersten so trockenen und so heißen Sommers tobte. Gegen fünf hatte Paul gesagt, das würde ernst werden, man müsse den Stecker vom Fernseher rausziehen, einmal, man wusste nicht mehr, in welchem Jahr, hatten die Onkel einen neuen Apparat anschaffen müssen. Das Gewitter war für Annette und Éric ein neues und wildes Schauspiel gewesen, sie hatten in dem vom Schatten verschluckten Zimmer gewartet, in sicherem Abstand zu den drei Fenstern, deren Scheiben zitterten, sie hatten gewartet und die von heftigen Zuckungen befallene und in einem brutalen, dichten, grauen, waagrechten Regen absaufende Landschaft nicht wiedererkannt. Paul war etwas früher vom Stall hochgekommen und hatte sich gefreut, kein gemähtes Gras und keinerlei Ernte mehr zu haben, die den Launen des Wetters ausgeliefert wären; er hatte die Deckenlampe angeschaltet und von den Tollheiten der Hündin Lola erzählt, die bei jedem noch so bescheidenen Gewitter sonderbar überschnappte; sie war in dem Moment unten, geflohen, ein Häufchen Elend, zusammengekauert unter dem Ausguss d