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Jetzt betrat eine Menschenseele den Platz. Der erste Kunde des neuen Jahres 1920 bog aus der schattigen Via Ricatti in die gleißende Morgensonne und blieb kurz stehen. Wahrscheinlich war er geblendet. Er trug einen langen Kaschmirmantel mit Pelzkragen, Schal und Melone und stand einen Augenblick bewegungslos, das Gesicht zum Himmel gerichtet.
Ja, natürlich, das war die schmale, hochgewachsene Gestalt des jungen Grafen Revedin, Margheritas liebsten Klienten am Borgo Cavour. Er verwickelte sie fast täglich in lange Diskussionen um das Tagesgeschehen, und sie fragte sich seit Jahren, warum ein so hochwohlgeborener Herr sich mit jemandem wie ihr abgab, einem Kind aus dem Volk.
Wohl war er nach dem Tod all seiner Familienangehörigen in den vergangenen Kriegsjahren sehr allein?
Doch was machte ein Herr wie er, der in seinem Palais außer einer Tante, die ihn ab und an aus Turin besuchen kam, zwar keine Familie, jedoch eine Schar von Hausbediensteten hatte, schon so frühmorgens auf der Straße?
Und das an einem Feiertag?
Er stand auf der Piazza wie vom Himmel gefallen, und Margherita wurde es warm ums Herz. Mit keinem Menschen in der ganzen Stadt konnte man so gepflegt über die Rubriken in den Zeitungen diskutieren, die sie von jeher am meisten interessierten: Das waren die Weltpolitik und die Kulturnachrichten.
Und von keinem konnte man so viel zu den liberalen Strömungen erfahren, denen sich die herrschenden Schichten außerhalb Italiens schon in der zweiten Generation öffneten. Die Revedins, und dafür bewunderte Margherita diese Familie seit je, wurden im Städtchen Treviso zwar wortlos respektiert, aber vielerorts auch gefürchtet oder gar gehasst. Der Vater des jungen Grafen, der Conte Ruggero, hatte nämlich schon als junger Großgrundbesitzer eine aufgeklärte Gleichberechtigung seiner Arbeiter verteidigt. Solch demokratische Ideen hatten in Deutschland oder Finnland seit dem Krieg zu neuen Staatsformen geführt. In Italien, das ja fest in seiner tausendjährigen kirchlichen Regentschaft verankert war, waren sie aber bis heute, trotz der neuerlich aufkommenden »roten« Bewegungen, unvorstellbar.
Als einzige Großgrundbesitzer der ganzen Region hatten die Revedins schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Agrarreform umgesetzt und Gesindehäuser gebaut, in denen die Landarbeiter, ihre Kinder und Alten besser untergebracht waren als irgendwo anders. Sie besaßen eine neue bauliche Form, die Luft an alle Fassaden ließ und die die ganze Landschaft rund um Treviso, von Castelfranco bis Cessalto prägte.
In den Jahren vor dem Krieg hatte Margherita zunehmend böse Leserbriefe zu den »gesunden Lebensbedingungen«, die der Conte Ruggero ermöglicht hatte, im Gazzetino Veneto entdeckt. Sie hatte sie dem jungen Grafen regelmäßig gezeigt, und der hatte laut lachen müssen, wenn seine Landarbeiterhäuser »Nester des Kommunismus« genannt wurden oder »Sü