Mahlzeit!
Respekt und Zivilcourage
»Wir haben eine Vorwarnung, bitte alle auf Position!« Die Stimme des Aufnahmeleiters tönt durch das Studio 3 auf dem Mainzer Lerchenberg. Gleich geht die Sendung los, es ist Montagmittag. Soeben hat die Maskenbildnerin mir noch ein letztes Mal die Stirn abgepudert und mich auf eine Falte im Hemd hingewiesen. Ich nippe kurz am Wasserglas, checke die Reihenfolge meiner Moderationskarten und gehe auf Position.
»Noch eine Minute!« Auf dem Monitor neben der Kamera sehe ich die Wetterkarte derheute-Nachrichten, dann höre ich im Hintergrund, wie die Moderatorin sich verabschiedet und die Zuschauer auf diedrehscheibe hinweist. Jetzt kommt noch ein Trailer, dann sind wir drauf. »Und Achtung bitte, noch 10!« Ein letzter Check im Kontrollmonitor unter der Kamera – hat der Kollege das Wasserglas vom Tisch genommen? Okay, ist weg, kann losgehen. Schon erklingt die Titelmelodie, und ich bin drauf, pünktlich um zehn nach zwölf, live vor über einer Million Zuschauern quer durch die Republik:
»Schön, dass Sie dabei sind, herzlich willkommen zur drehscheibe!« Meine Begrüßung in Kamera 1, gefolgt von der ersten Themenmoderation: »Nach der tödlichen Prügelattacke auf dem Augsburger Weihnachtsmarkt: Glauben Sie, dass Eskalationen und Respektlosigkeiten zunehmen? Eskalieren Streitereien schneller als früher? Was haben Sie vielleicht selber schon mal beobachtet?« Es folgen Statements von Menschen, die wir auf der Straße befragt haben.
Es sind ganz unterschiedliche Typen, die für diese Umfrage in unser Mikrofon sprechen, und doch sind die Erfahrungen ähnlich: Rüpeleien in der Straßenbahn, schimpfende Eltern am Spielfeldrand bei den Nachwuchskickern und noch einiges mehr. Die meisten Befragten sind sich einig: Ja, die Respektlosigkeit nimmt zu, Rücksicht und Teilnahme haben immer weniger Platz in unserer Gesellschaft. Der Trend scheint klar – es sei durchaus ein Zeichen, resümiert eine Frau am Ende der Umfrage.
»Ja, vielleicht ist das alles tatsächlich auch ein Warnzeichen …«, moderiere ich ab, als die rote Lampe wieder angeht und die nächste Moderation beginnt. »Die Trauer ist weiter riesig, ebenso aber auch die Bestürzung über die tödliche Tat von Augsburg. Ein 49-jähriger Feuerwehrmann, privat mit seiner Frau und Freunden auf dem Heimweg vom Weihnachtsmarkt, verliert sein Leben. Getroffen von einem brutalen Schlag, zu Boden gestürzt – und an den Folgen der Verletzungen gestorben.«
Es folgt ein Beitrag mit Hintergrundinfos zu der Gewalttat und dem aktuellen Stand der Ermittlungen. Während der Film läuft, trinke ich einen Schluck, schaue kurz zurück auf den Bildschirm mit dem Beitrag und bereite mich dann schon mal auf die nächste Moderation vor. Eine, die sich inhaltlich nahtlos anschließt. Denn es geht um die fehlende Rettungsgasse bei einem schweren Verkehrsunfall in Hamburg. Deshalb steht auch am Ende dieser Moderationskarte ein Fragezeichen: »Wo bleibt der Respekt, was ist los in der Gesellschaft? Unsere Eingangsfragen, die man auch in Bezug auf den folgenden Beitrag stellen kann.«
Parallel zum Anlaufen des Films wandert mein Blick routinemäßig zum digitalen Countdown neben einem der Studioscheinwerfer: noch 1:48 Minuten bis zur nächsten Moderation. Zeit genug, um diese Fragen einfach mal an Sie weiterzugeben.
Nehmen wir mal an, ich würde mit einem ZDF-Mikrofon vor Ihnen stehen und genau das von Ihnen wissen wollen, was würden Sie antworten? Wie erleben Sie das Zusammenleben unserer Gesellschaft?
Für mich ist es klar: Ja! Es eskaliert heutzutage schneller, und die Hemmschwelle sinkt. Ähnlich wie bei den verbalen oder körperlichen Drohungen gegen Politikerinnen und Politiker steht die Gewalttat in Augsburg als Beispiel für unzählige kleine und große Eskalationen, die sich häufen. Wir bekommen sie als Schlagzeilen oder Videos direkt aufs Handy geliefert. Und immer, wenn ich in einer Sendewoche wieder einen Raubüberfall, Trickbetrüger oder einen Streit mit verheerenden Folgen anmoderiere, komme ich zu der gefühlten Schlussfolgerung: Die Zahl der Straftaten wächst beinahe täglich.
Doch das stimmt