1. KAPITEL
Shaw
Noch 16 Tage …
»Ich brauche deine Hilfe, Warden.«
Das waren die Worte, die ich als Erstes zu Warden gesagt hatte, als ich ihn vor drei Tagen von einem neuen Handy mit neuer Nummer aus angerufen hatte. Dieselben Worte, die mir noch immer im Kopf herumspukten, als ich im Morgengrauen den vereinbarten Treffpunkt in Edinburgh erreichte. Genauso wie die Frage, ob das hier richtig war oder ob ich nicht einen gigantischen Fehler beging. Nicht mit meinem Plan an sich, sondern damit, Warden um seine Unterstützung zu bitten. Schließlich wusste ich nicht genau, wie er nach allem, was passiert war, zu mir stand. Wenn er so wie die meisten Hunter und Huntresses dachte, würde dieses Treffen kein gutes Ende nehmen. Für keinen von uns. Aber ich war bereit, dieses Risiko einzugehen.
Für sie.
Seit Roxys Tod waren mittlerweile zwei Monate vergangen. Zwei. Monate. Nachdem ich ihren Körper mit meiner Magie konserviert und ins Londoner Quartier gebracht hatte, war ich nach Italien an den Ort des Geschehens zurückgekehrt. Auf dem Boden der Ruine klebte noch immer ihr Blut und erinnerte mich an jede schreckliche Sekunde, die zu ihrem Tod geführt hatte. Daran, wie ich sie festgehalten und angefleht hatte, nicht aufzugeben, sondern bei mir zu bleiben. Daran, wie das Leben Stück für Stück aus ihren hellbraunen Augen gewichen war, bis es ganz verschwunden war. Wie sie leblos in meinen Armen gelegen hatte.
Nicht weit entfernt von der Ruine in der Toskana hatte ich mein Auto entdeckt. Die Tatsache, dass Roxy den dunkelblauen Chevrolet Camaro behalten hatte, obwohl ich sie einfach so zurückgelassen hatte und sie wusste, dass ich ein Hexenmeister war, schnürte mir die Kehle zu. Im Wageninneren hatte ich nicht nur Roxys und meine Sachen gefunden, darunter mein altes Handy und die vielen Schlüsselanhänger aus den Ländern, die wir auf unserer Tour durch Europa bereist hatten, sondern auch den Ghostvision. Das Gerät, das Wardens Vater entwickelt und das Warden für Roxys Jagd auf die entflohenen Seelen angepasst hatte. Und plötzlich war in meinem Kopf ein Plan aufgetaucht: Ich würde Roxy zurückholen. Irgendwie würde ich einen Weg finden, sie aus der Unterwelt zu befreien. Und bis dahin würde ich die entflohenen Seelen vernichten, um Roxys Mission fortzuführen.
Es war von Anfang an ein verrückter Plan mit kaum vorhandenen Erfolgschancen gewesen, aber ich hielt daran fest. Heute, zwei Monate später, mehr denn je.
Die St. Anthony’s Chapel in Edinburgh war nur noch die Ruine einer ehemals prächtigen Kirche mitten im Holyrood Park. WobeiRuine noch eine nett gemeinte Umschreibung war. Genau genommen war hier nur die Ecke eines Gebäudes aus dem für die schottische Hauptstadt so typischen Sandstein übrig geblieben.
Obwohl dieser Platz bei Weitem nicht so erhöht war wie der Arthur’s Seat auf dem Gipfel, hatte man auch von hier aus einen fantastischen Ausblick auf den dunklen Loch und die Stadt. Eine Stadt, in der ich sechs Wochen lang gelebt hatte. In einem Quartier, von dem ich mir ziemlich sicher war, es nach allem, was passiert war, nie wieder von innen sehen zu dürfen. Höchstens als Gefangener.
Ich ballte die Hände zu Fäusten, stemmte mich gegen den kalten Wind und versuchte gegen die Bitterkeit anzukommen, die mir die Kehle hochkroch. So lange hatte ich nach meiner Vergangenheit gesucht. Seit ich das erste Mal die Augen auf der Krankenstation des Londoner Quartiers aufgeschlagen hatte, hatten diese Fragen meine Gedanken beherrscht. Fragen nach meinem bisherigen Leben. Nach meinem früheren Ich. Nach den Menschen, die mir etwas bedeutet hatten und die mich jetzt vermissten. Aber dann hatte ich die Wahrheit erfahren, und hatte mir in den darauffolgenden Ereignissen nicht nur Baldur und seine Anhänger zum Feind gemacht, sondern auch di