: Nathalie Weidenfeld
: Warum schwedische Eltern gute Laune haben und äthiopische Kinder hilfsbereit sind Die 99 besten Erziehungstipps aus aller Welt
: Piper Verlag
: 9783492993562
: 1
: CHF 8.10
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: Familie
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sie waren im Büro, haben eingekauft, die Tochter zum Gitarrenunterricht gefahren, Vokabeln abgefragt und gekocht, aber Ihre Kinder starren aufs Handy, behaupten, dass sie Hühnchen hassen, und weigern sich, mit dem Hund Gassi zu gehen? Sie fragen sich, was Sie falsch machen, wo doch französische Kinder sich sogar im Restaurant benehmen und chinesische Kinder freiwillig Klavier üben?  Nathalie Weidenfeld wollte wissen, was deutsche Eltern von anderen lernen können, und hat 99 Erziehungstipps aus 33 Ländern gesammelt, vom japanischen Geheimnis ausgeschlafener Kinder bis zum buddhistischen Umgang mit muffigen Teenagern. Alle für gut befunden von erfahrenen Müttern - und aufgeschrieben, um Ihr Leben besser und ein wenig entspannter zu machen.

Nathalie Weidenfeld studierte amerikanische Kulturwissenschaft und promovierte an der FU Berlin. Sie verfasste Romane und Sachbücher und arbeitete als Lektorin und Filmwissenschaftlerin.

1 Astrid aus Schweden, oder:
Erziehung zur Selbstständigkeit


Astrid ist meine erste Interviewpartnerin. Wir haben uns in einem kleinen Café in der Nähe ihrer Firma verabredet, in der sie manchmal ihre Mittagspause macht. Ich bin als Erste da und bestelle einen Tee. In diesem Moment fällt mir ein, dass ich ja gar nicht weiß, wie sie aussieht. Plötzlich sehe ich eine blonde Frau in Jeans und einer Sportjacke draußen vor der Tür stehen. Da sofort die klischeehafte Vorstellung bei mir aufkommt, dass Schweden meistens blond sind, spreche ich sie an.

»Astrid?«

»Ja, die bin ich«, sagt Astrid.

Als ich ihr erzähle, dass ich automatisch nach einer blonden Frau gesucht habe, muss sie lachen. Nicht alle Schweden seien blond, wie man immer meint, sagt sie. Ich solle nur mal an die schwedische Königsfamilie denken, da seien fast alle dunkelhaarig.

Wir setzen uns an einen kleinen Tisch. Astrid ist eine dynamische junge Frau, mit einem Vollzeitjob alsIT-Expertin. Sie hat zwei Söhne, die elf und vierzehn Jahre alt sind. Ihr Mann arbeitet ebenso Vollzeit. Sie wohnt mit ihrer Familie am Stadtrand von München. Jeden Morgen muss sie in die Stadt pendeln. Doch das macht ihr nichts aus. Astrid lebt gerne ein wenig außerhalb, wo die Kinder viele ihrer Aktivitäten mit dem Fahrrad erreichen können und das Leben insgesamt nicht ganz so schnell und stressig ist. Sie und ihr Mann waren sich von Anfang an darüber einig, dass sie auf dem Land leben wollten, um ihre Kinder dort gemeinsam großzuziehen.

»Wir führen eine sehr schwedische Ehe«, sagt Astrid. »Was bedeutet, dass wir uns die Arbeit mit dem Haushalt und den Kindern teilen. Anders«, lacht sie, »wäre es wohl auch nicht gegangen.«

In der Tat rangieren schwedische Männer im europäischen Vergleich auf Platz eins der Liste des Engagements im Haushalt und in der Kindererziehung. Ob ich wüsste, dass Männer, die sich aktiv an der Haushaltsarbeit beteiligen, eine höhere Lebenserwartung haben? Nein, das wusste ich nicht. Was sich wie ein Witz anhört, ist aber keiner. Aus einer Studie des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung in Bremen aus dem Jahre 2018 geht nämlich in der Tat hervor, dass Männer, die sich Hausarbeit leisten, gesünder sind und länger leben als Haushaltsmuffel.

Ich frage Astrid, worauf sie bei ihrer Erziehung am meisten Wert legt. Sie muss nicht lange nachdenken: »Ich denke, das Wichtigste ist es, die Kinder dazu zu erziehen, selbstständig zu sein.«

Ich bitte sie, mir ein Beispiel zu geben.

»Sie können zum Beispiel selbst Frühstück vorbereiten. Oder ihre Zimmer selbst sauber machen. Ich denke, diese Dinge sind wichtig.«

»Ihre Kinder machen selbst ihre Zimmer sauber?«, frage ich nach.

»Ja«, lacht Astrid. »Sogar mit dem Staubsauger!«

»Auch die Betten?«, hake ich ungläubig nach.

»Ja, auch die Betten.«

Großartig, denke ich. »Wahrscheinlich muss ich nicht fragen, ob sie auch den Tisch decken, oder?«

»Klar decken sie den Tisch«, lautet Astrids Antwort. »Und räumen hinterher sogar die Spülmaschine ein.«

Ich gebe zu, spätestens jetzt bin ich neidisch. »Wie haben Sie das geschafft?«, will ich wissen.

Astrid denkt kurz nach. »Wahrscheinlich, weil ich mich einfach geweigert habe, diese Rolle zu übernehmen. Ich sehe mich einfach nicht in der Rolle der Putzfrau.«

Klingt einleuchtend. Ich sehe mich eigentlich auch nicht in dieser Rolle. Und trotzdem bin ich es, die zu Hause das meiste erledigt. Ich frage Astrid nach ihrem Trick, nicht ohne Hoffnung, gleich einen Zauberspruch oder etwas in der Art verraten zu be