: Sue Prideaux
: Ich bin Dynamit Das Leben des Friedrich Nietzsche
: Klett-Cotta
: 9783608116090
: 1
: CHF 16.60
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: Biographien, Autobiographien
: German
: 560
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir erleben das kurze, kometengleiche Leben des Friedrich Nietzsche hautnah mit: Von der beschaulich-christlichen Erziehung, überschattet durch den mysteriösen Tod des Vaters, folgen wir Nietzsche nach Basel, in die Einsamkeit der Schweizer Alpen, erleben das Pathos seines Zarathustra, seine Dramatisierung des Nihilismus und seinen Absturz in den Wahnsinn. Ein einzigartiges Leben - begeisternd, originell, erschütternd, berauschend, filmreif erzählt. Nietzsche ist ein philosophisches Ereignis und eine weltgeschichtliche Existenz ohnegleichen. Alle Generationen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat er beeinflusst und geprägt - mehr als Karl Marx. Nietzsche sprengt die Philosophie, die Bildung, das Bürgerliche, das Menschliche-Allzumenschliche, vor allem aber das 19. Jahrhundert in die Luft. Wie Nietzsche von sich selbst sagte, ist er »kein Mensch, sondern Dynamit« und bis heute einer unserer erstaunlichsten und unheimlichsten Zeitgenossen geblieben. Nietzsche, einzigartig und tragisch - so, wie wir ihn noch nie gesehen haben.

Sue Prideaux, 1946 geboren, studierte Kunst, arbeitete in Florenz, Paris und London als Kunsthistorikerin, ist heute als Schriftstellerin tätig und lebt vorwiegend in Norwegen. Für ihre Biographien über Edvard Munch und August Strindberg wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Ihre Nietzsche-Biographie stand auf der Bestsellerliste der New York Times.

2 Unser deutsches Athen


Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.

Ecce Homo, Vorwort, Abschnitt 4

Als Nietzsche elf Jahre alt war, starb seine Großmutter, und endlich konnte seine Mutter im eigenen Haushalt schalten und walten. Nach einigen gescheiterten Versuchen kamen Franziska und die zwei Kinder in einem Eckhaus der Weingarten-Straße unter, einer respektablen und unauffälligen Straße in Naumburg. Nietzsche hatte jetzt sein eigenes Schlafzimmer. Er verfiel rasch in die Angewohnheit, bis um Mitternacht zu arbeiten und um fünf Uhr morgens aufzustehen, um dort weiterzumachen, wo er die Nacht zuvor aufgehört hatte. Es war der Beginn eines Lebens vollerSelbstüberwindung, wie er es nannte. Dieses wichtige Prinzip sollte er später metaphysisch weiter vertiefen, vorerst jedoch musste er erst einmal seinen miserablen Gesundheitszustand überwinden. Qualvolle Phasen mit Kopfschmerzen, Erbrechen und extremen Augenschmerzen konnten eine ganze Woche anhalten. Dann konnte er nur bei geschlossenen Vorhängen in einem abgedunkelten Raum liegen. Der kleinste Lichtstrahl schmerzte in den Augen. Lesen, Schreiben und selbst längeres logisches Nachdenken kamen absolut nicht in Frage. Zwischen Ostern 1854 und Ostern 1855 fehlte er beispielsweise sechs Wochen und fünf Tage in der Schule. Wenn er gesundheitlich auf dem Damm war, holte er mit jener »hohen Majestät des Willens« so viel nach, dass er sogar seine Klassenkameraden überholte. Naumburgs Domgymnasium war alles andere als schulische Provinz, aber Nietzsche hegte den enormen Ehrgeiz, es irgendwie nach Schulpforta zu schaffen, das führende klassische Internat im gesamten Deutschen Bund.

»Pforta, Pforta, ich träume nur noch von Pforta«, schrieb er im Alter von zehn Jahren. Pforta nannten die Insider die Schule, und schon seine anmaßende Verwendung dieses Kurznamens drückt aus, wie sehr er sich nach dieser Schule sehnte.

Pforta bildete 200 Jungen im Alter von 14 bis 20 Jahren aus, vorzugsweise Söhne von Vätern, die, wie Nietzsches Vater, im Dienste Preußens oder der Kirche gestorben waren. Der Auswahlprozess der Kandidaten erinnerte an das Märchen von Aschenputtel, in dem die Botschafter des Prinzen kreuz und quer durchs Land reisten, um herauszufinden, wessen Fuß wohl in Aschenputtels Schuh passen würde. Das Auswahlkomitee der Schule kam nach Naumburg, als Nietzsche 13 Jahre alt war, und sie waren trotz seiner heiklen Noten im Fach Mathematik so beeindruckt, dass sie ihm für den kommenden Herbst einen Platz im Internat anboten.

»Ich, das arme Lama«, schrieb Elisabeth mit ihrem üblichen Pathos, »fühlte mich vom Schicksal immer schlechter behandelt. Ich aß nicht mehr und legte mich in den Staub, um zu sterben.« Ihr Niedergang war nicht etwa dem Neid auf die anstehende erstklassige Schulausbildung des Bruders geschuldet; sie beklagte, dass er nun monatelang von zu Hause weg sein würde. Auch Nietzsche selbst war nicht frei von Bedenken. Als der Tag des Abschieds nahte, berichtete seine Mutter von tränennassen Kissen, tagsüber jedoch schaffte er es, seine männliche Tapferkeit zur Schau zu tragen.

»Es war an einem Dienstag Morgen, als ich aus den Toren der Stadt Naumburg herausfuhr  Die Schrecken der bangen Nacht umlagerten mich und ahnungsvoll lag vor mir die Zukunft in grauen Schleier gehüllt. Zum ersten Male sollte ich mich von dem elterlichen Hause auf eine lange, lange Dauer entfernen  der Abschied hatte mich bang gemacht und ich zitterte im Gedanken an meine Zukunft  Dazu bedrängte mich der Gedanke,  von nun an niemals mich meinen eigenen Gedanken übergeben zu können, sondern immer von Schulgenossen fortgezogen zu werden, von meinen Lieblingsbeschäftigungen, ungemein  jede Minute wurde mir schrecklicher, ja als ich Pforta hervorschimmern sah, glaubte ich in ihr mehr ein Gefängnis als eine alma mater zu erkennen. Ich fuhr durch das Tor. Mein Herz wallte über von heiligen Empfindungen: Ich wurde empor gehoben zu Gott in stillem Gebet und tiefe Ruhe kam über mein Gemüt. Ja Herr, segne meinen Eingang und behüte mich auch in dieser Pflanzstätte des heiligen Geistes in leiblich und geistig. Sende deinen Engel, dass er mich siegreich durch die Anfechtungen, denen ich entgegengehe, führe  Das hilf, Herr! Amen.«[1]

Pfortas gefängnisartige Optik geht auf den Ursprung des Internats zurück: Einst war es ein Zisterzienserkloster. Gelegen in einem abgelegenen Tal an einer Verzweigung der Saale, rund sechs Kilometer südlich von Naumburg, war es von zwölf Fuß hohen und zweieinhalb Fuß dicken Mauern umgeben. Hinter diesen Mauern lagen knapp drei Hektar fruchtbaren Landes mit Einsprengseln typisch klösterlicher Prägung: Karpfenteich, Brauhaus, Weingarten, Heuwiesen, urbare Felder und Weideland, Scheunen und Stallungen, Molkerei, Schmiede, steinerne Kreuzgänge und jede Menge eindrucksvoller Gebäude im gotischen Stil. Pforta sah ein wenig aus wie eine größere Version von Röcken, der Heimat seiner Kindheit. Als geistliche Festung war sie darauf ausgelegt, politische Wirren außen vor zu halten, deren bedeutendste für Pforta die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts gewesen waren. Als die Kämpfe abebbten und der Katholizismus Roms über Bord geworfen wurde, erklärte der Kurfürst von Sachsen, der Martin Luther unterstützt hatte, Pforta zurPrinzenschule. Es war eine der führenden Lateinschulen, die 1528 von Philipp Schwarzerd (gräzisiert: Melanchthon) gegründet wurden.[2] Dieser hatte Luther bei der Bibelübersetzung ins Deutsche unterstützt. Schwarzerd fügte auch noch die Lehre des Hebräischen zu Latein und Griechisch hinzu, die bereits die Grundlage für die höhere Bildung waren. So konnten die Gelehrten die großen hebräischen Texte aus erster Hand studieren, anstatt mit Übersetzungen zu arbeiten, die nicht selten politisch oder theologisch verzerrt waren. Das war ein mutiger Schritt gegen viele Jahrhunderte kirchlicher Zensur, denn so bekam jeder Gelehrte die Möglichkeit zur eigenständigen Textexegese.

Bei Nietzsches Aufnahme war das Schulsystem von Wilhelm von Humboldt[3], dem Bruder des berühmten Entdeckers, Geografen und Wissenschaftlers Alexander, geringfügig verändert worden. Humboldt war mit Schiller und Goethe befreundet und aufgrund seiner Ankunft in Paris kurz nach dem Sturm auf die Bastille stark politisch beeinflusst worden. Bemerkenswert reif für einen jungen Mann von 22 Jahren beschrieb er seinen Überdruss an Frankreich im Allgemeinen und Paris im Besonderen. Er zog daraus den besonnenen Schluss, Zeuge der unvermeidlichen Geburtswehen einer neuen Rationalität zu sein  die Menschheit hatte unter einem Extrem gelitten und fühlte sich nun verpflichtet, im anderen Extrem Erlösung zu finden.

In den Jahren 1809 bis 1812 war von Humboldt mit der Aufgabe betraut, das deutsche Bildungssystem völlig neu zu ordnen. Dabei verband er eine vorbildliche Rationalität im Hinblick auf die Zeitereignisse mit seinen eigenen Erfahrungen mit dem klassischen Erbe, die er sich als Preußens Botschafter im Vatikan verschaffen konnte. Ihm schwebte eine Zukunft für den Deutschen Bund nach dem strukturellen Vorbild des antiken Griechenlands vor: ein System von Kleinstaaten, die nebeneinander vielfältig und kreativ innerhalb einer künstlerischen und geistigen Einheit existieren. Seine Theorie führte er in seinenIdeen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen aus, ein Buch, das John Stuart MillsÜber die Freiheit beeinflusste. Von Humboldts Leitmotiv war, dass die maximale Freiheit in Erziehung, Bildung und Religion innerhalb eines minimal eingreifenden Staates herrschen sollte  innerhalb eines Staates, in dem das Individuum,ergo Bildung alles ist. Ziel der Bildung war letztendlich die Befolgung des Prinzips »Der wahre Zweck des Menschen  ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«.[4] Dieses komplette und harmonische Ganze verband zwei ganz spezielle deutsche Ideale:...