Der Ruf der Inseln.
Sizilien.
Mallorca.
Menorca.
Ibiza.
Montag, 21. Mai
Eine Nacht auf dem Meer. Erster Teil
Es ist ein ganz normaler Montag, weit nach Mitternacht, irgendwo auf dem Meer auf halbem Weg zwischen den Inseln Sardinien und Menorca. Die Navigation auf dem Tablet im Cockpit vor mir sagt, nach Mallorca sind es noch 107 Seemeilen. 200 Kilometer. Oder ein voller Tag und neun Stunden.
Es ist windstill. Vor mehr als drei Tagen bin ich aufgebrochen in Sciacca im Südwesten Siziliens. Ich bin etwa zehn Stunden vom nächsten Land entfernt, von Menorca, die Insel müsste irgendwo in der Finsternis nordwestlich vor mir liegen. Über mir ist nur Himmel. Um mich nur Schwärze und das monotone Brummen vonLevjes Motor. Unter mir nichts weiter als Wasser. Wie tief es ist, kann ich nicht sagen. Der Tiefenmesser, der bis hundert Meter zuverlässig misst, zeigt unverändert 183 Meter an. Dabei ist der Meeresboden unter mir eine abwechslungsreiche Landschaft aus Hügeln und Klüften, sanft abfallenden Hängen und steilen Felsen. Doch bei 183 Meter erahnte der Tiefenmesser vor drei Tagen zum letzten Mal Grund. Seitdem schickt der sinnreiche kleine Apparat immer noch mehrmals sekündlich einen akustischen Strahl in die Tiefe, der eigentlich vom Meeresgrund zum Sensor zurückgeworfen werden sollte. Doch er versickert seit drei Tagen grundlos unter mir. Das Meer ist hier über 2000 Meter tief. Nichts mehr, was mein Tiefenmesser erfassen könnte. Aber auch nichts, was mich erschauern lassen könnte.
Hinter einer Wolkenbank im Westen erleuchtet der Mond seit einer Viertelstunde wie eine Fackel den Himmel darüber. Das ist erstaunlich. Denn jetzt, Mitte Mai, ist der Mond, wo ich ihn hinter seinem Versteck weit im Westen erahnen kann, nichts mehr als eine hauchdünne liegende Schale am Firmament. Neumond.
Ich blicke kurz nach vorn. In der Dunkelheit voraus, etwas rechts hinter der Kimm ein schwindender roter Schein. Offensichtlich so ein kleines Schiff wie meines. Freude erfasst mich, noch jemanden zu treffen hier draußen, der es nicht aushält daheim, den es hinauszieht wie mich. Das Schiff muss klein sein. So klein, dass selbst mein Radar, das zur Sicherheit nachts immer mitläuft und von meinem Mast aus wie ein Matrose Ausguck hält in der Dunkelheit nach Dingen, mit denen ich in der tiefen Schwärze kollidieren könnte, es bislang nicht erfasst hat. Einen Moment lang sehe ich den roten Schemen. Was tut der Skipper um diese Tageszeit hier? Wohin fährt er? Was bewegt ihn? Hat er um diese Nachtzeit ähnliche Gedanken wie ich? Dann wird das Licht dünner und dünner, bis die Schwärze es verschluckt und mich wieder allein zurücklässt.
Müdigkeit überfällt mich, plötzlich wie aus einem Eimer über mich gekippt. Meine Lider brennen. Meinen Arm zu heben oder die Pupillen so scharf zu stellen, dass sie in der Finsternis auch nur das Wasser um uns sehen können, kostet Kraft und Überwindung. Ich muss wach bleiben. Auch wennLevje sich selbst auf dem eingegebenen Kurs hält, kann ich es mir hier so wenig wie am Steuer eines Autos leisten, dem Wunsch nach Schlaf nachzugeben, einfach einzunicken. Der Wunsch, mit dem Brummen des Motors nach unten zu gehen, das zugige Cockpit gegen die Wärme meines Bettes einzutauschen und meinen Platz vor den grün leuchtenden Instrumenten zu verlassen, ist übermächtig.
Ich denke an mein früheres Leben zurück. Vor ein paar Jahren noch wäre ich wenige Stunden später an einem Montag wie diesem ins Büro gegangen. Ganz normal. Hätte mit Mitarbeitern im Verlag über neue Buchprojekte, Lieferschwierigkeiten, Umsätze gesprochen. Ich war Geschäftsführer eines Computerbuch-Verlags, zweiundzwanzig Jahre. Ich liebte, was ich tat, mit verrückten Techies und Programmierern zu arbeiten, die Dinge am Horizont sahen, von denen ich noch nicht die leiseste Ahnung hatte. Es war wie ein Rausch und ging bis zum Tag meines Rauswurfs. Er kam nicht überraschend. Kein Gewitter taucht aus heiterem Himmel auf, man sieht es kommen. Ich hatte es zweiundz